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Fassbinder hat das geahnt und gewusst; und spätestens seit dem HÄNDLER
DER VIER JAHRESZEITEN hat er über ANGST ESSEN SEELE AUF, MUTTER KÜSTERS’ FAHRT
ZUM HIMMEL, DEUTSCHLAND IM HERBST, DIE EHE DER MARIA BRAUN, DIE DRITTE GENERATION,
LOLA und der SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS diese bundesrepublikanische Geschichtsschreibung
verfolgt; mit LILI MARLEEN war er in die Nazi-Zeit zurückgegangen, mit
BOLWIESER, DESPAIR und BERLIN ALEXANDERPLATZ in die Weimarer Republik; EFFI
BRIEST schließlich
reichte am weitesten historisch zurück.
Zu diesem Projekt, den Deutschen ihre Geschichte der letzten 100 Jahre zu erzählen
und hinter den Fehlentwicklungen der Gegenwart die Spuren der vergangenen, aber
immer noch fortwirkenden Irrungen und Wirrungen aufzusuchen, gehörte sowohl
seine Adaption von Gerhard Zwerenz’ aktuellem Frankfurt-Roman Die Erde
ist unbewohnbar wie der Mond (zu der ein vollständiges Drehbuch Fassbinders
vorliegt, wenngleich Motive davon in SCHATTEN DER ENGEL von Daniel Schmid und
in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN eingegangen sind) als auch sein Vorhaben einer
dreizehnteiligen Fernseh-Serie nach Gustav Freytags Soll und Haben.
Beide Arbeiten kamen nicht zustande.
Dekor und Dingwelt dieser Filme, Kostüme und Alltagsgegenstände konstituieren
den historischen Raum – auch bei den Arbeiten mit zeitgenössischen
Stoffen (wie DIE DRITTE GENERATION): das sind dann historische Filme in statu
nascendi. Was in der Paläontologie „Leitfossilien“ anzeigen,
von denen aus das historische Umfeld zu bestimmen ist, prägt das Erscheinungsbild
dieser Arbeiten nachhaltig. In FONTANE EFFI BRIEST ist es der Gestus und die
Ikonografie der zeitgenössischen Fotografie, im HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN
Schlagermusik, in MARIA BRAUN, LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS sind
es Fußball-Reportagen; in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und der DRITTEN GENERATION
ist es die allgegenwärtige Präsenz der modernen (Kommunikations-)Medien:
Spielautomaten, Fernsehen, Radio, Video, Computer. Die jeweilige Zeit und das
dominante Umfeld der modernen Medien prägt zunehmend die Ästhetik und
den Erzählstil dieser Arbeiten; ihre Farbdramaturgie, der Ton, die Kameraperspektive
und die Montage wird davon erfasst. Fassbinders Filme über die Nachkriegs-
und Adenauerzeit (und ebenso LILI MARLEEN: ein UFA-Film) sind immer zugleich
auch objektiv-ironische Imitationen bestimmter zeittypischer Filmstile. Dieser ästhetische
Historismus beschreibt den Stoffen und Erzählungen einerseits eine durchgehende
künstlerische Distanz ein: als handwerkliche Kunst-Stücke wie als künstliche
Produkte; andererseits rekonstruieren solche ‚heutigen’ Filme die
Stilgeschichte des filmischen Mediums, um dessen Wirkungsästhetik und „Dramaturgie
des Publikums“ (Volker Klotz) – z. B. in LILI MARLEEN – oder
deren verlorene Erzähltechniken (z. B. die Blenden in der VERONIKA VOSS)
erinnernd vor Augen zu stellen.
Der parabelhafte Realismus etwa von ANGST ESSEN SEELE AUF wird spätestens
seit DESPAIR (der ersten Arbeit nach einem fremden Drehbuch) in ein immer komplexeres
System mehrfacher ästhetischer Codierungen übersetzt – bis zu
QUERELLE, das jede Verbindung zur Produktion des Scheins von Realität kappt
und in der totalen Künstlichkeit des Dekors eine rituelle, symbolistische
Darstellungsweise ansteuert.
So penibel Fassbinder versucht, die wechselnden historischen Ambientes seiner
deutschen Filmgeschichtsschreibung zu rekonstruieren: der genuine Erzähler
richtet seinen Blick, sein Interesse an Subtilitäten auf die Menschen, welche
in dieser Außenhaut stecken wie in einem Etui; und in den Menschen auf
die Dialektik von Psyche und Physis, von Einzelnem und Gruppe, von Außenseiter
und Gesellschaft. Es ist eine Geschichte der Gefühle, die er mit Geschichten
in der Geschichte aufsucht und aufschreibt; und wenn die Liebe im Zentrum seines
Oeuvres steht (immer unter dem Aspekt ihres Scheiterns), so als Utopie einer
Sehnsucht, welche auf eine „Heimat“ zielt (nach dem bekannten Wort
Ernst Blochs am Ende seines Prinzips Hoffnung), die „allen in
die Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ In Fassbinders Kindheit
schien solche Heimat wohl kaum, allenfalls verschattet, als Erfahrung des Mangels,
als Leerstelle; oder als Erlebnis, das den Liebenden von dem Geliebten abhängig
macht, ein sadomasochistisches Verhältnis stiftet. Wenn Heinrich Bölls
literarische Produktivität als „Verteidigung der Kindheit“ (Linder)
interpretiert wurde – und in seinem Werk Liebes-Verhältnisse eine
ebenso dominante Rolle spielen wie in Fassbinders Arbeiten –, so suchen
die Fassbinderschen Helden und Heldinnen in der Liebe nicht die Wiedergewinnung
eines verlorenen Kindheitsparadieses, sondern ein „Glücklichsein“,
das, nach der Bemerkung Walter Benjamins, „heißt, ohne Schrecken
seiner selbst inne werden (zu) können“. In der Unbedingtheit einer
Liebesäußerung steckt die Kraft einer fundamentalen Veränderung
der Lebensverhältnisse: jeder nähme sich als er selber (für) wahr,
und jeder im anderen: den anderen. Der „andere Zustand“ (Robert Musil),
den die Utopie der Liebe in Fassbinders Filmen als Ziel einer ungestillten Sehnsucht
beschreibt, wäre ein herrschaftsfreier Raum, eine zeitlose Zeit, ein Sprung
aus der Geschichte. Antizipationen dieses anarchischen Glücks gibt es einige
in Fassbinders Filmen: wenn z. B. Karlheinz Böhm Margit Carstensen leidenschaftlich
umarmt und küsst und die Kamerabewegung strudelnd um das Paar kreist (MARTHA);
oder wenn Mieze zum erstenmal das Zimmer Biberkopfs betritt (BERLIN ALEXANDERPLATZ).
Häufiger jedoch sind die Zeichen des Scheiterns, der Unterdrückung
und Ausbeutung, der schließlich vom Liebenden gegen sich selbst gerichteten
Gewalt – von HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN über FONTANE EFFI
BRIEST, ANGST VOR DER ANGST, ICH WILL DOCH NUR DASS IHR MICH LIEBT, FAUSTRECHT
DER FREIHEIT bis zur EHE DER MARIA BRAUN und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN. Wenn
so viele seiner Arbeiten mit Tod oder Suizid enden – sein Werk kennt keine
Idyllen, nur Zustände der Euphorie im klinischen Sinne –, so spricht
das jeweils herrschende Realitätsprinzip zwar sein Urteil über die
Wünsche, die allein nicht helfen; aber: „Nur über die Sehnsucht
jedes einzelnen nach etwas anderem kann etwas anderes entstehen« (Fassbinder).
Wilfried Wiegands Annahme, geäußert im Augenblick von Fassbinders
ersten Publikumserfolgen, er versuche eine „neue Volkskunst zu schaffen“,
hat sich nicht erfüllt. Zwar bedeutete die Bekanntschaft mit dem filmischen
Werk Douglas Sirks den Durchbruch zu den eigenen Möglichkeiten, womit ihm „die
Angst, auf eine Art und Weise profan zu werden, weggenommen“ wurde. Aber
sein gleichlautendes Bekenntnis zu Sirk und zum Hollywood-Film meinte gewiss
den Publikumserfolg (ebenso wie eine arbeitsteilige Produktionsweise); jedoch
weder die Imitation Hollywoods noch jene zermürbenden Gruppenprozesse, denen
er sich (und denen er andere) mehrfach danach aussetzte.
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