Das Herz des neuen Deutschen Films

Rückblicke auf die Ära Fassbinder

Von Wolfram Schütte

Der Neue Deutsche Film (was von den „Oberhausenern“ geblieben ist und danach kam) besitzt viele Energien. Alexander Kluge wäre seine kombinatorische Intelligenz, Werner Herzog sein athletischer Wille, Wim Wenders seine phänomenologische Wahrnehmungskraft, Werner Schroeter sein Emphatiker der Emotion, Herbert Achternbusch der Rebell seines Eigensinns, und Volker Schlöndorff ist sein Handwerker. Rainer Werner Fassbinder aber wäre das Herz, die schlagende, vibrierende Mitte aller dieser Partialtriebe, dieser je eigenen energetischen Ausprägungen gewesen. Melos und Melodramatik, Emotion und Kalkül, Wahrnehmungssensibilität und handwerkliche Perfektion: im Schnittpunkt dieses Spannungsfelds ist der Ort seines künstlerischen Werks zu finden; es war das Prisma, in dem sich die Arbeiten der anderen brachen. Fassbinder war die dominierende künstlerische Persönlichkeit des Neuen Deutschen Films; weil er auf verschiedene Weise zwischen Avantgarde und Konvention, dem Zentrum und der Peripherie, dem Neuen und dem Alten und zwischen den Medien (Film und Fernsehen und Theater) vermittelte; weil er in alle ästhetischen Bereiche kraft seiner Sensibilität, Intelligenz und Phantasie ausschwärmte und weil er sich in seinen Arbeiten, im Laufe seiner künstlerischen Entwicklung und aufgrund seiner speziellen Tätigkeiten soviel aneignete, in sich einsog und weitergab.

Vor allem aber stand er im Zentrum, als Gravitationsfeld des Neuen Deutschen Films, weil er dessen entschiedenster Erzähler war. Er hinterließ – von LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD bis zu QUERELLE – nicht nur ein Decamerone von Geschichten, Anekdoten, Erzählungen; sondern vor allem eine kaum überschaubare Galerie von Porträts. Er war ein Darsteller, Beschreiber, ein Maler von Menschen, von Charakteren; die Palette seiner Menschendarstellungskunst umfasste alle Farben, sein Interesse richtete sich auf alle Formen menschlicher Existenz, der Fokus seiner Wahrnehmungsfähigkeit und seiner Gestaltungskraft umfasste Alte und Junge, Frauen und Männer – alle Differenzen und Homogenitäten zwischen ihnen. Erst im Rückblick – und vielleicht braucht dieser Blick noch eine größere Distanz, um sich dessen bewusst zu werden – wird man inne, welche Comédie humaine Rainer Werner Fassbinder in seinem Oeuvre hinterlassen hat, wie intensiv seine filmischen Erzählungen von Menschen durchtränkt sind von der Politik, der Geschichte und dem Alltag, den Wechseln und den Kontinuitäten im Lebenszusammenhang Deutschlands – gerade auch dort, wo er das Land und seine Geschichte nicht in paradigmatischen Augenblicken und Menschen – wie z. B. dem HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN oder der EHE DER MARIA BRAUN – sich zu imaginieren versuchte; auch (wenn nicht gerade) solche scheinbar zutiefst persönliche Auseinandersetzungen wie WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und QUERELLE (oder „Nebenarbeiten“ wie ANGST VOR DER ANGST und ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT) fallen weder als subjektive Privatissima noch als periphere Fingerübungen aus einem Oeuvre, dessen künstlerisches und geistiges Temperament – so sehr es jeden Stoff prägte – den immer gegenwärtigen Charakter einer zeitgenössischen Zeugenschaft besaß.

Derartig umfassend, in Breite und Tiefe gestaffelt, ist die Bundesrepublik (bis in ihr historisches Vorfeld) in keinem anderen künstlerischen Werk der Nachkriegszeit präsent – mit der einen Ausnahme: dem literarischen Oeuvre Heinrich Bölls; und wenn man, unter diesem Blickwinkel, im europäischen Kino Vergleichbares und Verwandtes sucht, so drängen sich einem die cinematographischen Werke Luchino Viscontis, Ingmar Bergmans, Jean-Luc Godards und Claude Chabrols auf; aber nur Filme Andrzej Wajdas besitzen möglicherweise den gleichen – vielleicht sogar deutlicher erkennbaren – Charakter einer zeugenhaften Signatur der nationalen Kultur und Epoche. Während der polnische Regisseur, aufgrund der ganz anderen politischen Kultur seines Landes, sein Werk (eng verbunden mit seinen anderen filmpolitischen Aktivitäten) „repräsentativ“, d. h. zwar nicht im Einklang mit der herrschenden Macht (eher sogar subversiv gegen sie), aber im Bewusstsein nationaler Identität entfalten konnte, ist der paradigmatische Charakter von Fassbinders Oeuvre sowohl gegen den herrschenden Konsens als auch ohne eine politische Identität entstanden. In seinen Filmen hat sich keine Nation erkannt; sie wird aber in ihnen erkannt werden. Der paradigmatische Charakter wächst diesem Werk hinterrücks, im Laufe der Zeit, indem es historisch wird, immer dichter zu.

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  Rainer Werner Fassbinder in seinem ersten Spielfilm LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (1969)

 

  Berlinale 1974, FONTANE EFFI BRIEST

 

  Rainer Werner Fassbinder und Hanna Schygulla bei den Dreharbeiten zu LILI
MARLEEN (1980)












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