Herbst 2005
Berlin Alexanderplatz

Verena Lueken über den Film Berlin Alexanderplatz

Kulturstiftung des Bundes

Kinofilm oder Fernsehwerk? Die Filmgeschichte ist sich uneins, für welches Medium Rainer Werner Fassbinder seine Verfilmung des Döblin-Romans geschaffen hat. In jedem Fall ist Berlin Alexanderplatz ein Monumentalwerk der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Film mit einer bislang ungewissen Zukunft: Schon 25 Jahre nach der Premiere existieren keine vorführbaren Kopien mehr, die dem Originalfilm entsprechen. Die Restaurierung des Films, für die die Kulturstiftung des Bundes gemeinsam mit der Rainer Werner Fassbinder Foundation sorgt, gleicht einer Rettungsaktion. Und sie ist ein Geschenk an das Publikum zum 25. Todestag des Regisseurs im Jahr 2007, wenn der restaurierte Film in neuem Licht erstrahlt. Verena Lueken stellt Fassbinders Mammutprojekt als Meilenstein der Filmgeschichte vor.

Ohne Berlin Alexanderplatz wäre Rainer Werner Fassbinder der Meisterregisseur ohne Meisterwerk geblieben. So sah es jedenfalls Vincent Canby, der Kritiker der New York Times, nachdem er 1983 erstmals die Gelegenheit hatte, in mehreren Sitzungen diesen über fünfzehnstündigen Film zu sehen, der eigentlich eine Fernsehserie und damals noch in gutem Zustand war. Fassbinder, der brillanteste und am wenigsten konventionelle deutsche Filmemacher, so schrieb Canby damals, habe einen in hohem Maße experimentellen Film gedreht, dessen Experimente allerdings die Konventionen des zukünftigen Kinos werden könnten, eine Vision, die sich beklagenswerter Weise nicht erfüllt hat. Dass sich kein Film mit dem grandiosen Melodram Berlin Alexanderplatz messen könne, möge damit zu tun haben. dass außer Erich von Stroheim in Greed - und das war 1923 kein Filmregisseur je in diesem riesigen Maßstab gearbeitet und zu dieser gefunden habe. Berlin Alexanderplatz ein Meilenstein der Filmgeschichte.

Fünfundzwanzig Jahre nach Fassbinders Tod und nach Sichtung zahlreicher seiner Filme, die inzwischen restauriert wurden und als DVD verfügbar sind, kann man nur vermuten, dass Vincent Canby recht hatte. Fassbinders atemlose Produktion und sein immer weiterstürmendes Interesse an neuen Stollen ließen ein bedächtiges Herumbasteln an möglicherweise trotz seiner immensen Sorgfalt für jedes Detail nicht Geglücktem nicht zu. Wenn Fassbinder in einem seiner Filme einen Mangel sah, korrigierte er ihn im nächsten. Im Alexanderplatz aber sollen er und mit ihm seine Darsteller und sein Team makellos gearbeitet haben - wenn auch nicht in allen Nebensträngen der Handlung. Wir werden das mit Bestimmtheit erst wissen, wenn auch Berlin Alexanderplatz der nur noch in nahezu zerstörten Kopien existiert, restauriert worden ist und wir den Film endlich wieder sehen können. Dieses Restaurierungsvorhaben, das einige Jahre in Anspruch nehmen wird, kann auf Mitarbeiter zurückgreifen, die an dem Film beteiligt waren, unschätzbar für die Lichtbestimmung etwa der Kameramann Xaver Schwarzenberger und für den Schnitt die Schnittmeisterin Juliane Lorenz.

Fassbinder hatte sich, wie er 1980 in einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit schrieb, schon als Jugendlicher mit Alfred Döblins Roman befasst, ihn aber erst einmal nach hundert Seiten zur Seite gelegt, ohne die Hauptfigur Franz Biberkopf je zu vergessen. Er habe das Buch in den folgenden Jahren dann mehrfach wiedergelesen und mit sich herumgetragen. Die vielen Figuren in zahlreichen seiner Filme, die Franz heißen, sind eine unverhohlene, wenn auch nicht immer bewusste oder schlüssige Hommage an den Roman, den er erst 1979/80 verfilmen sollte. In diese Reihe offensichtlicher Hinweise auf Döblin gehört auch Franz Walsch, der in einigen Filmen Fassbinders für den Filmschnitt mitverantwortlich zeichnet - auch für Berlin Alexanderplatz übrigens - und niemand anderes ist als Fassbinder selbst. Berlin Alexanderplatz war also eine stete Präsenz in Fassbinders Leben und Werk, und dass er den Roman eines Tages
verfilmen würde, stand für ihn außer Frage. Dass es 1979 dann soweit war,
war in gewisser Weise ein Zufall: eine Rechtefrage.

Döblins Roman erschien 1929. Er erzählt die Geschichte von Franz Biberkopf, einem Transportarbeiter, der seine Freundin totgeschlagen hatte und zu Beginn des Buchs gerade aus der Haft entlassen wird. Bei Fassbinder sieht man in dieser Szene im Hintergrund schon die SA brüllend aufmarschieren, und am Ende, darin war sich Fassbinder zumindest sicher, obwohl es bei Döblin keinen Hinweis darauf gibt, wird Biberkopf wohl Mitglied der NSDAP werden, kaputtgemacht vom System, wie man damals, Anfang der achtziger Jahre, sagte. Biberkopf schwört sich, anständig zu bleiben, aber die Stadt ist gegen ihn. Mit einer «ungeheuerlichen äußersten Rohheit», schreibt Döblin, «torpediert» das Schicksal den Franz. Der nimmt sich den skrupellosen Reinhold zum Freund, wird von diesem verraten, benutzt und in neue Verbrechen hineingezogen, bis er ganz irre wird. «Verflucht ist der Mensch, der sich auf Menschen verläßt» - das Leitmotiv des Romans könnte auch über Fassbinders Werk stehen, abgewandelt vielleicht zu «Verflucht ist der Mensch, der einen Menschen liebt», wie es Biberkopf tut. Er liebt den Reinhold, und er liebt die Mieze, und als Reinhold die Mieze ermordet, ist, in Döblins Worten, «unser guter Mann, der sich bis zuletzt stramm gehalten hat, zur Strecke gebracht».

Berlin Alexanderplatz ist der einzige deutsche Großstadtroman, der sich mit John Dos Passos' Manhattan Transfer messen kann, ein Roman von Joyceschem Format, was Fassbinder sehr genau verstanden hatte. Döblins expressive Sprache, seine schon von sich aus filmische Technik des Gegeneinanderschneidens von Bibelsprache und Schlager, von atemlosen Monologen und Werbesprüchen, von Berliner Jargon und religiösen Motiven, die rhetorische Vielstimmigkeit, die immer auf den Franz Biberkopf bezogen bleibt, dazu die Motive höriger Verhältnisse und Macht-Ohnmacht-Konstellationen, all dies musste Fassbinder begeistern, fesseln und zur Adaption reizen.

Ursprünglich sowohl als Fernsehserie als auch als Kinofilm geplant, war Berlin Alexanderplatz der Film, auf den Fassbinders Werk logisch zulief. Der Kinofilm wurde wegen mangelnder Finanzierung nicht gedreht, doch es entstanden fünfzehneinhalb Stunden Film fürs Fernsehen, gesendet in dreizehn Folgen und einem Epilog. Diese fünfzehneinhalb Stunden drehte Fassbinder für 13 Millionen Mark zwischen dem 16. Juli 1979 und dem 3. April 1980 im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks als Koproduktion der Bavaria und des staatlichen italienischen RAI an 154 Drehtagen präzise nach seinem detaillierten Drehbuch, in dem jede Kameraeinstellung genau beschrieben war, häufig begleitet von kleinen Zeichnungen, die Fassbinder in seinem Notizbuch festgehalten hatte. Ein Mammutprojekt, ein Monster von einem Film, ein Supermonster fürs Fernsehen.

Die Filmkritiker, die das Werk im Herbst 1980 vor seiner Fernsehausstrahlung auf einer Kinoleinwand sahen, waren fast einhellig begeistert. Die Zuschauer hingegen und die Fernsehkritiker, die auf ihren kleinen Schwarzweiß-Geräten oder technisch bei weitem noch nicht ausgereiften Farbfernsehern die ersten Teile der Serie anschauten, zeigten sich empört. Graues Einerlei oder eine braune Soße, «über die gelegentlich ein Lichtfleck huschte», so das Urteil etwa in der Welt am Sonntag, mehr sei da nicht, eine Verschwendung von Gebührengeldern, ein Reinfall. Die Zuschauer schalteten ab oder um, die Bildzeitung blies zum Sturm auf den Regisseur, dessen Wohnung unter Polizeischutz gestellt wurde.

Die Entrüstungsstürme hatten sich längst gelegt, als Berlin Alexanderplatz nach Fassbinders Tod in einigen deutschen Städten und auch in New York im Kino wiederaufgeführt wurde. Nur dort, auf der Leinwand, konnte man sehen, was Fassbinder mit dieser Döblin-Verfilmung wollte, nur dort konnte man sein ästhetisches Konzept erkennen und damit die Genialität seiner Grundidee. Den Alexanderplatz, der den topographischen Mittelpunkt des Romans abgibt, gab es nicht mehr. Also versuchte Fassbinder, der fast nur in Innenräumen drehte und vom Alexanderplatz einzig die U-Bahn-Station zeigte, durch das Licht, das hier vor allem Nuancen der Dunkelheit waren, die Stimmung der zwanziger Jahre zu erzeugen. Döblins Roman spielt in der Zwischenkriegszeit, die Verfilmung entstand im Deutschland der Nachkriegszeit, und beides sollte sichtbar werden.

Die Fernsehserie Berlin Alexanderplatz scheiterte an der damaligen Fernsehtechnik, die eine brillante Wiedergabe der nuanciert beleuchteten Szenen nicht erlaubte. Und sie scheiterte an einem Publikum, das nichts akzeptierte, was von der standardisierten Fernsehästhetik gleichmäßig ausgeleuchteter Räume abwich. Heute ist zumindest die Technik in der Lage, Fassbinders Werk, wenn es wiederhergestellt ist, auch auf dem Fernsehschirm so wiederzugeben, wie er sich das vorstellte. Vielleicht aber wird Berlin Alexanderplatz immer im Kino am besten aufgehoben sein, als eine der Säulen des Nachkriegskinos, das ohne Fassbinders Werk und ohne diesen wagemutigen, grandiosen und unverschämten Film unvorstellbar ärmlich aussähe.

Verena Lueken ist Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.





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