Frankfurt am Main, 28.05.2005
Die Wut der frühen Jahre

Rainer Werner Fassbinder mit sechzehn: Lyrik und Erzählungen / Von Albert Ostermaier

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Sie liegen in der Sonne. Die Sonne brennt. Man sieht an dem grellen, flirrenden Licht, wie sehr die Sonne brennen muß. Man kann es fühlen, möchte die Augen in den Schatten drehen, träumt vom kalten Wasser, klirrenden, klaren Eiswürfeln in einem Glas. Kommt ins Schwitzen, nur vom Zuschauen. Wie heiß das ist, wie die Kamera draufhält, eine weitere Sonne, die über Schultern, Arme, Beine strahlt.

Die Frau, Martha, möchte sich eincremen, und sie muß es: Ihre Haut ist bleich, wie unberührt, ein Blatt Papier. Doch er, Helmuth, der Sadist, nimmt ihr die Creme aus der Hand und setzt die Frau den glühenden Händen der Sonne aus. Schnitt. Sie liegt auf dem Bett, ihr ganzer Körper verbrannt, die ganze Haut ein schmerzendes Rot, auf dem jede Berührung sichtbar ist als ein Weiß. Und er, er will sie berühren, will sich auf ihren Sonnenbrand legen. Als er mit ihr schläft, genießt er ihren Schmerz, mit dem sie jede seiner Berührungen erfährt.
Kaum eine Einstellung macht die Roheit der Gewalt, die Brutalität einer Berührung unmittelbarer spürbar, gerade in ihrer Beiläufigkeit, gerade in dem kleinen Schmerz, dem so oft der große folgt. Die Schattenseite der Liebe sucht die Sonne, die nicht das Glück bringt, sondern die Verletzung. Man verbrennt sich an der Liebe, und die Liebe verbrennt uns, von außen wie von innen - und wenn sie kälter ist als der Tod, dann brennt sie als Frost und legt die Herzen unter eine Schicht aus Eis. Sie ist unmöglich und hört doch nicht auf, eine Möglichkeit zu sein. Martha und Helmuth waren auf dem Weg nach Rom, ins Land, wo die Zitronen blühen und die Sehnsüchte deutscher Dichter.
Auch Fassbinder war immer von der Sehnsucht getrieben, gehetzt. Achternbusch schrieb einmal über ihn, er komme ihm "vor wie einer, den man nicht aufhalten darf". Und jetzt können wir nachlesen, wie früh seine Reise begann, wie atemlos er schon als Jugendlicher schrieb zwischen zwei Zigarettenlängen. "Im Land des Apfelbaums" hat er jene seiner Mutter gewidmete und selbst gebundene Sammlung von Gedichten, Hörspielen und Prosatexten überschrieben, mit der er sich in den Jahren 1962/63 die fressende Angst von der Seele schrieb, den frühen Haß, die Wut, die Liebeskrankheit, die Leidenschaft. Da war er gerade siebzehn. Am 31. Mai diesen Jahres wäre er sechzig Jahre alt geworden.
Der immer kranken und abwesenden Mama zu Weihnachten abgetippte Jugendgedichte; die Gedichte in einer Schutzhülle, der Band selbst gebunden, als Cover eine auf den Umschlag geklebte Postkarte von Marc Chagall. Was kann man von einer solchen Veröffentlichung aus dem Nachlaß erwarten außer philologischem Vollständigkeitswahn?
Die Vorzeichen täuschen, schon der Titel ist ein Meisterwerk, wie Fassbinder überhaupt ein Titelgenie ist. Keiner hat für seine Werke einprägsamere, sinnfälligere, poetisch präzisere und dabei über sich hinausweisende Titel geschaffen. Das Land, wo die Zitronen blühen, liegt fern, unerreichbar fern, es braucht die Kraft der Sonne, die das Gelb in die reifen Früchte glüht, einen azurblauen Himmel, in den es sich träumen läßt. In unserem Land wachsen keine Zitronen, aber Äpfel. Äpfel sind keine Zitronen, doch sind sie nicht minder symbolträchtig. In Äpfel schlägt man seine Zähne, für Äpfel braucht man Biß. Zwischen dem ersten Mann und der ersten Frau war ein Apfel, mit ihm begann die Vertreibung aus dem Paradies, der Exodus der Liebe, das Ringen um eine Rückkehr ins Glück: "Ich lieb heut die / Und morgen jene, / Denn alle machen mich verrückt, / Daß ich nach jeder mich nun sehne." Äpfel sind kein Luxus, man kann sie stehlen und von den Bäumen pflücken, wenn man Hunger hat und nicht Winter ist oder Herbst, der am deutlichsten für dieses Land steht: "Denn wenn das Auge bricht, / Dann sind wir tot, so wie das Blatt. / Wir leben in Erinnerung / Von lieben Freunden, Mutter. / Denn auch der Baum, der liebt sein Blatt. / Es liegt jetzt dort auf Schotter." Ein schmutziger Reim, der die Mutter mit dem Schotter bindet, dem Fallen der Blätter im Herbst, dem Absterben, während die geliebte Mutter immer dem Tod nahe ist und das Wirtschaftswunder sein Wunder verliert.
"Natürlich sind das keine Meisterwerke", schreibt Daniel Kletke, einer der Herausgeber. Natürlich sind die meisten der Kreuzreime kreuzbrav, und es ist rührend zu sehen, wie Fassbinder die Silbenzahlen neben den Zeilen notierte und seine Gedichte abklopfte. Natürlich versucht man Motive zu entdecken, die später in den Filmen und Stücken wiederkehren, Leitmotive, Leidensmotive, Assoziationsketten und Kettenreaktionen. Da ist der Tod und die Einsamkeit, da ist ein waches, wütendes Auge für die Ungerechtigkeit, die Nähe zu den Außenseitern, die Erfahrung des Gefangenseins im eigenen Körper und in der Zeit, da ist der Zorn und die Rage, die Gewalt und das gewaltige Gefühl, da ist immer wieder die Liebe und ihr Scheitern, da ist die Abwesenheit von Gott in seiner Anwesenheit und ein Suchen, das stärker ist als alles Gefundene. Und natürlich findet man Zeilen, die man sucht: "Der Sommer heiß und zäh / Verbrannte Fleisch und auch mein Herz", oder in einem der besten Gedichte, dem lakonischen "bis . . .": "Ich frage mich warum es endet / Die Liebe und das Sehnen / Warum das Glück sich wendet / Wenn wir uns aneinander lehnen."
Und man findet sogar ein Gedicht, "Vom Tod der Lebenden", das geradezu programmatisch ist, rauh und rotzig, ein Fanal, und man hat beim Lesen Fassbinder vor Augen. Wie er in seiner schlampigen Lässigkeit mit einer Zigarette im Mund durch den Regen auf den Straßen läuft und diese Zeilen spricht, während die Scheinwerfer an ihm vorbeigleiten: "Ich werde kämpfen / Bis die Kraft erlischt / Ich werde leben, werde lieben / Bis alles mal verwischt. / Der Traum von Wärme / Geborgenheit und Kraft / Der ist vergeben / Weil ihn niemand schafft. / Mein Herz schlägt / Doch meine Seele / Die vertrocknet und vergeht, / Da ich mich selber quäle. / Der Tod ist grausam, viel zu hart / Wenn er ins Leben schlägt / Ich gebe das Signal, ihr wartet / Bis daß das Leben Früchte trägt."
Solche Zeilen lassen vergessen, das vieles ohne die Fassbinderbrille einfach Jugendlyrik ist und den Gefühlshaushalt eines Sechzehnjährigen zeigt, wie man ihn erwartet: Von der Todessucht bis zur Liebessehnsucht, vom Unrechtsempfinden bis zum Rächerwahn, von der Selbstüberschätzung bis zum Selbstzweifel, vom geliehenen Leben bis zum geliehenen Geld, von den Römern bis zur Romantik. Jeder, der in diesem Alter schreibt, schreibt Rollengedichte, in denen er sich selbst als Sklave, Sträfling, Held und Weltenretter sieht. Vieles, was man schreibt, hat man nicht erlebt oder noch nicht erlebt, man macht sich im Schreiben älter, als man ist, so daß aller Abgeklärtheit immer auch eine Naivität eingeschrieben ist. Und die Vorbilder schreiben mit, bei Fassbinder am meisten der junge Brecht. Wie er ist auch Fassbinder kurz in Augsburg zur Schule gegangen. Bevor er bei Brecht und seiner Ästhetik in die Schule ging, bei der radikalen Selbstinszenierung als Künstler und dem Schaffen einer Künstlerkommune um sich. Nur gelang Fassbinder später in "Warnung vor einer heiligen Nutte", was Brecht nie gelang: sich selber zu ironisieren und anzugreifen.
Die eigentliche Sensation dieses Bandes aber sind, neben den berührenden und bewegend einfühlsamen, sorgenden und verstehenden Briefe seiner Mutter, die Prosatexte. Hier ist nichts von jugendlichem Schwärmer- und Drängertum, keine lyrische Hochgestimmtheit als Gefühlslegitimation. Fassbinders frühe Prosa ist rauh, nüchtern, an der Grenze zur Kälte, präzise, verstörend, brutal und zärtlich zugleich. Sie erzählt in scharfen Schnitten, in Kamerafahrten, sie erzählt von außen nach innen und von innen nach außen, sie erzählt vom Draußen und vom Drinnen, da wird geliebt, gehungert, geschlagen und gesehnt. Seine Prosa ist lakonisch, lässig, nie sentimental. Das ist eine Entdeckung und ebenso eine Verlustanzeige, denn Fassbinder hätte alles Zeug zu einem genialen Prosaautor gehabt. Und in diesen Kurzerzählungen ist er auch seinen Filmen am nächsten, dort hat er sie weitergeschrieben.
In "Rosa Pudding", eine der härtesten und verstörendsten Erzählungen, sitzt ein tauber Junge am Tisch, während ein Kind neben ihm im Kinderwagen schreit und das Radio läuft. Er ist umgeben von einer Geräuschkulisse, die ihn isoliert, alles Akustische ist für ihn nur optisch erfahrbar. Der Junge ist isoliert, weil keiner ihn wahrnehmen will: "Seine blöden Augen glotzten aus dem Fenster auf den Hof, und sie sahen verschwommen, konturenlos Frau Müller von nebenan, die Wäsche auf die Leine hängte. Er sah sie, aber er erkannte sie nicht, nein, er konnte sie ja nicht erkennen, denn sie schaute immer zur Seite, wenn sie ihm auf der Treppe begegnete. Sie ekelte sich vor ihm." Warum ist er alleine zu Hause, warum allein mit dem Baby? Wir wissen es nicht. Der Junge hat kein Bewußtsein von sich selbst, seinem deformierten Äußeren, seinen Behinderungen. Seine einzige Freude ist das Wasser, wenn es aus dem Hahn fließt. Im Radio läuft ein Schlager, das Kind schreit noch immer. Aber er hört es ja nicht, sieht nur den rosa Kinderwagen, und bei Rosa denkt er an Pudding, rosa Pudding, den er liebt. Er kriecht zum Kinderwagen, schleckt daran und ist enttäuscht, "er versuchte sich den Pudding in Erinnerung zu bringen, aber er sah nichts als die Farbe, Rosa". Bis er plötzlich die fleischfarbene Hand des Kindes im Mund hat: "Sie schmeckte nach Mensch, aber seine dunkellilane Zunge schmeckte Pudding, rosa Pudding und er biß." Und alle seine Wut auf die Welt liegt in diesem Biß, alle Hoffnung, die enttäuscht wird, all die Welt, die ihn täuscht, seine verstörten Sinne, die ihm Pudding sagen, wo eine Kinderhand ist. Er ist schuldlos schuldig. Diese Erzählung ist nicht nur kunstvoll gebaut in ihren Farb- und Geräuschnuancierungen, in ihren Sinnenkollisionen und Verengungen, ihrer Kopfinnenschau und Weltaußendesillusion. Sie enthält überdies trotz ihrer Brutalität einen verzweifelten, unerhörten Schrei nach Liebe, nach Erlösung.
Dieser Band, als Geschenk für die Mutter gedacht, ist ein Geschenk für den Leser und eine Entdeckung. Die Herausgeber Juliane Lorenz und Daniel Kletke haben ihn liebevoll wie bereichernd ediert und wunderbar durch Abbildungen ausgewählter Typoskripte und Manuskriptseiten ergänzt. Und er enthält, nicht zu vergessen, großartige Fotografien von Fassbinder und seiner Mutter. Da steht er als Sechzehnjähriger 1961 auf dem Balkon der Münchner Wohnung, betont lässig und wirkungssicher gegen den Beton gelehnt, in schwarzem kragenlosen aufgeknöpften Hemd und schwarzer Jeans, die Zigarette in der linken Hand über dem silbernen Ring und lächelt in sich hinein, wie einer, der weiß, was kommen wird: "Die Verse sagen alle nichts Neues. Noch nicht. R.W.F." "Noch nicht", aber mitunter doch schon.
Rainer Werner Fassbinder: "Im Land des Apfelbaums". Gedichte und Prosa aus den Kölner Jahren 1962/63. Herausgegeben von Juliane Lorenz und Daniel Kletke. Mit einem Geleitwort von Susan Sontag. SchirmerGraf Verlag, München 2005. 192 S., Abb., geb., 20,40 [Euro].

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