Frankfurt am Main, 01.03.1997
Der letzte Deutsche

Amerikaner wollen wissen, was für ein Gefühl es ist, von hier zu sein: Fassbinder in New York / Von Verena Lueken

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Amerikaner wollen wissen, was für ein Gefühl es ist, von hier zu sein: Fassbinder in New York / Von Verena Lueken

NEW YORK, im Februar
Es war ein deprimierender Abend für den jungen Regisseur. Sein Beitrag zum Sundance Film Festival in Park City in Utah feierte am nächsten Tag Premiere, und er hatte die nervöse Unruhe mit der Ansicht eines alten Films vertreiben wollen. Die Festivalretrospektive ehrte Rainer Werner Fassbinder. An jenem Tag wurde MARTHA gezeigt, ein Fernsehstück aus dem Jahr 1973. Hätte der Jungfilmer gewusst, dass MARTHA bereits im Jahr 1994 die aktuellen Filme beim Festival in Venedig auf hintere Plätze verwiesen hatte (...), wäre seine Wahl vielleicht doch auf eine der zahlreichen unmittelbar konkurrierenden Produktionen des Jahres 1996 gefallen, die er angstvoll gemieden hatte. So aber verließ er nach zwei Stunden das Kino und dachte einen Abend lang darüber nach, den Beruf zu wechseln.
Er hätte ahnen können, wie groß das Risiko war, die eigene Arbeit nach MARTHA für harmlos zu halten, Denn Fassbinder ist (neben Pabst) einer der wenigen Deutschen, über die an manchen Filmschulen Amerikas ab und zu noch Seminararbeiten verfasst werden. Seine immense Produktivität, die kurzen Drehzeiten und die niedrigen Produktionskosten, die Geschichten und Legenden über Leben. Sex und Arbeit mit ihm in einer Gruppe nur zögernd wechselnder Mitglieder und über das Leiden an ihm, dem „bad-boy-wunderkind“, schließlich sein früher und immer noch ein wenig rätselhafter Tod – all dies fasziniert die Amerikaner nach wie vor. Doch weil Fassbinders Filme seit langem aus den Kinos verschwunden sind, muss man sie daran erinnern, wie es in Sundance geschah und kurz darauf dann in New York.
Das Museum of Modern Art zeigt die erste vollständige Fassbinder-Retrospektive in Amerika, ein Unternehmen, das in Umfang und Inszenierung jedes deutsche Filmmuseum neidisch machen muss. Alle dreiundvierzig Kino- und Fernsehfilme werden aufgeführt, viele mit neuen Untertiteln und in frischen, unversehrten, farbechten 35-mm-Kopien. Zu verdanken ist dies vor allem der Arbeit von Juliane Lorenz, Montagemeisterin und für die letzten Jähren Lebensgefährtin von Fassbinder, die seit 1992 die Fassbinder Foundation leitet und für die Erhaltung der Filme, die sie zu Recht als „Kulturerbe“ bezeichnet, sammeln ging – vergeblich allerdings bei den überall im Land wuchernden Filmförderungsinstitutionen. Einzig Berlin- Brandenburg und das Goethe-Institut sahen sich in der Lage, ein paar Mark beizusteuern. Der große Rest kam von privaten Spendern, ehemaligen Mitarbeitern oder aus dem Erlös von Benefiz-Veranstaltungen. Die Retrospektive entstand in Zusammenarbeit von Laurence Kardish, Kurator an der Filmabteilung des Museum of Modern Art, und Juliane Lorenz und wird später, gefördert und mit organisatorischer Unterstützung vom Goethe-Institut New York/German Cultural Center als Auswahl in dreizehn Städte der Vereinigten Staaten und Kanadas reisen.
Einige der Filme waren in Amerika noch nie zu sehen, andere erleben ihre Kinopremiere, ein paar, wie DESPAIR oder LILI MARLEEN, werden in ihrer selten gezeigten englischen Originalfassung präsentiert, und zum ersten Mal seit 1983 können die New Yorker auch BERLIN ALEXANDERPLATZ komplett besichtigen, fünfzehneinhalb Stunden, wahlweise in zwei oder vier Teilen. Ein paar kleine Theater spielen Fassbinder- Stücke wie „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ oder „Der Müll, die Stadt und der Tod“, und Ende April wird es eine Marathonlesung einiger seiner Theaterstücke geben, die sieben Stunden dauern soll. Wer will das alles sehen und hören in New York, wo in diesen Wochen STAR WARS und seine Folgen im Kino auferstehen? Selbst Optimisten konnten nicht damit rechnen, dass Fassbinder heute wieder Säle füllt. Doch so geschah es. Auch die unbekannten und die missratenen Filme sind ausverkauft, und die Schlangen an den Kassen verweisen auf größeren Bedarf. Volle Häuser sind in New York nicht außergewöhnlich, das Publikum ist neugierig auf fast alles. was ihm angeboten wird. Doch dass die Filme eines toten deutschen Filmemachers zwei Monate lang die Klimaanlagen der Museumskinos über ihre Belastungsgrenze treiben, ist doch ein wenig überraschend – auch angesichts des profunden Desinteresses, mit dem breite Schichten Amerikas dem Deutschland von heute begegnen. Zu Fassbinder aber kehren die New Yorker nach dem ersten neugierigen Besuch immer wieder zurück, gerade so, als gebe es heute und in dieser Stadt für seine Filme über die Katastrophen des deutschen Wirtschaftswunders noch dieselbe Dringlichkeit, die sie im Deutschland der siebziger Jähre besaßen. Auch jenseits des Atlantiks verströmen die Filme immer noch eine Energie, die mit Fassbinder aus dem deutschen und auch dem internationalen Kino, aus der Kunst insgesamt fast verschwunden ist. eine Energie, die ihn immer weiter trieb, von Film zu Film, gerade so wie jetzt wieder seine Zuschauer, die sein Oeuvre als „work-in-progress“ erleben.
Dass Fassbinder einer der wichtigsten deutschen Nachkriegskünstler war, ist nicht mehr weit umstritten. Doch dass er die Amerikaner heute noch in Bann zieht, hat offensichtlich damit zu tun, dass er als einer der ganz wenigen in seinen Filmen präzise, quälend, ohne Selbstmitleid und ohne Gnade immer wieder die einzige Frage stellt, die sie wirklich interessiert, wenn es um Deutschland geht – wie es sich lebt mit der Geschichte, und was für ein Gefühl es ist, ein Deutscher zu sein. Gleichzeitig spürt man in diesen Filmen einen ungeheuren Verlust. Fassbinder erscheint heute als einziger deutscher Filmemacher nach dem Krieg, der beständig und drängend versucht hat herauszufinden, was mit seinem Land geschehen und ob es zu retten ist oder besser untergeht: der mit großer Kälte diesem Land gegenüber dessen verheerende Ödnis zeigte und mit unendlicher Warme die Figuren, die in ihr umherirren; und der dann manchmal eine Landschaft fand, wie in EFFIE BRIEST, der er sich zuwendete, fast mit Liebe wie den Gesichtern mancher Hauptdarstellerinnen. Fassbinder, um es kurz zu machen, war der einzige Filmregisseur, der sich bis in die letzten Stilisierungen seiner Filme hinein wirklich für Deutschland interessierte. In New York wurde er dafür bereits verehrt, als er noch lebte.



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