München, 14.12.1995
Mit Rainer Werner Fassbinder um die Welt

Begegnungen mit dem anderen Blick: Erfahrungen in Goethe-Instituten / Von H.G. Pflaum

Süddeutsche Zeitung

Die Mutter hatte der Tochter gerade noch den sozialen Aufstieg versprochen, doch der allererste Schritt, den Effi Briest auf ihren künftigen Ehemann zugeht, führt nach unten. Das Bild deutet die kommende Katastrophe der arrangierten Ehe bereits an. Fast wehrlos erscheint die junge Braut, wenn sie die Treppe heruntergekommen ist und vor Baron von Instetten steht.
Über die Spiegel in Fassbinders Filmen ist viel geschrieben worden. Aber Treppen? Ich habe das lange nicht bewusst gesehen – bis ein Student an der Filmschule von Quagadougou, Burkina Faso, danach fragte. Der junge Mann, in der Savanne aufgewachsen, vertraut mit der Baracken- und Bungalow-Architektur der Stadt, hatte einen anderen Blick. Er wollte etwas über die Bedeutung von Treppen in den Filmen Fassbinders hören – und über den möglichen Symbolwert der vielen Auf- und Abwärts-Bewegungen in ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT. Seither sehe ich mit verändertem Blick, wie Hanna Schygulla zum Finale von DIE EHE DER MARIA BRAUN in ihrem Korsett wie eine aufgescheuchte Henne auf einer Treppe herumirrt: Das ist bereits der Anfang vom Ende.
Hans verprügelt seine Frau. Szenenapplaus im Zuschauerraum. So hatte sich Fassbinder die Reaktionen auf HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN gewiss nicht vorgestellt. Erst recht nicht den nachfolgenden Kommentar: Dieser Hans habe doch alles, was ein Mann braucht: eine Frau, ein gesundes Kind, eine Freundin, eine Wohnung, Freunde, ein Auto und einen Job, mit dem er sogar auf legale Weise Geld verdienen kann. Nun behauptet dieser Film aus Deutschland, Hans würde sich bewusst zu Tode saufen, also letztlich Selbstmord begehen. Das nehme man dem großen Regisseur Fassbinder nicht ab. Oder noch deutlicher: man möchte sich nicht für dumm verkaufen lassen.
Das war am Goethe-Institut Kinshasa, Zaire. Für seine Person, für seine Lebensumstände, hatte der junge Skeptiker recht. Als Antwort konnte man ihm nur von der vergleichsweise niedrigen Selbstmordrate im Deutschland der harten Nachkriegsjahre erzählen – und von den gestiegenen Suizid-Raten in den Zeiten des Reichtums. Das war der Beginn eines sinnvollen Seminars.
Wozu aber überhaupt Filme von Fassbinder am Kongo zeigen? Für mich ist die Antwort einfach: Erstens sollte man nirgendwo auf der Welt das Kino der normativen Kraft Hollywoods überlassen – und zweitens macht gerade Fassbinders Beispiel Mut: wegen der Findigkeit des Regisseurs im Organisieren von Budgets, wegen der Fähigkeit, Filme auch (fast) ohne Geld zu drehen. Und weil Fassbinder einen Weg zeigt vom verwegenen Autodidakten zum souveränen Künstler.
Es gibt unzählige offizielle Selbstdarstellungen, in denen Deutschland als flächendeckende Parklandschaft erscheint, bevölkert von glücklich werkelnden Bürgern und berühmten Fußballspielern. In Kamerun habe ich gesehen, wie Jugendliche darüber lachen. Auch das ist ein guter Grund, Fassbinder-Filme zu zeigen. Mit ihnen könnte man selbst Außerirdischen ein vertretbares Bild deutscher Wirklichkeit vermitteln – besser als mit dem Werk irgendeines seiner Kollegen.
Der Informationswert ist indes nur die eine Seite. Ein Mann in Nikosia fällt mir ein. Schwarze Augen, schwarzer Vollbart, schwarze lange Haare. So haben sich einst Europas Studenten die südamerikanischen Guerilleros vorgestellt. Er schaute sich IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN an und saß, so dachte ich, im „falschen“ Film. Wortlos verfolgte er die anschließende Diskussion, schweigend saß er später in einer kleinen Runde in der Kneipe. Noch später entschuldigte er sich: Er sei völlig fertig, noch nie im Leben habe ihn ein Film mit seiner Verzweiflung so berührt. Hinterher erfahre ich den Beruf des „Guerilleros“: Bäckermeister.
„Das einzige, was ich akzeptiere, ist Verzweiflung.“ Fassbinders Bekenntnis in WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, das ich einst für Koketterie hielt, trifft wohl doch einen Nerv. In Peking, nach einem langen Tag im Staatlichen Filmarchiv, bekennt ein junger Mitarbeiter ohne Rücksicht auf die anwesenden Funktionäre, er sei in diesem Land oft deprimiert und hätte nun im Werk Fassbinders gesehen, dass sich solche Gefühle formulieren lassen.
Mit „Deutschlandkunde“ oder exotischer Neugier auf diesen Staat ist das Interesse an Fassbinder nur äußerst unzureichend erklärt. Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber dem Begriff: es muss einen weltweiten Fassbinder-Mythos geben. In La Paz lernte ich einen jungen Indio kennen, der selbst im Museum mit Rucksack und Wasserflasche herumlief; für ein halbwegs komfortables Quartier sprach das nicht. Er war viele hundert Kilometer mit dem Bus gefahren, um endlich einmal Filme von Fassbinder zu sehen. Am Ende des Seminars stellte er mir fragen, die eigentlich nur mit Essays zu beantworten wären, und blätterte dabei zur Erinnerung in einem Notizbuch; er hatte jede Einstellung aus EFFI BRIEST mitgezeichnet.
In Guadalajara, Mexiko: Zwei noble Señoras nehmen am Fassbinder-Seminar des Goethe-Instituts teil. Och warte auf die ersten sichtbaren Anzeichen von Befremden. Doch schon am zweiten Tag bringen die beiden Damen Gebäck mit – für alle, für die Kaffeepause. Eine von ihnen ist, so erfahre ich, mit einem wohlhabenden Arzt verheiratet. Sie sagt lächelnd Ungeheueres: Sie sei so fasziniert von diesem Regisseur und seinen Arbeiten – dafür könnte sie glatt ihre Familie verlassen. Das sagt eine Lady aus der High-Society einer mexikanischen Provinzstadt.
Noch kurz vor seinem Tod fand Fassbinder „die Idee, von Filmen was zu begreifen durch die, die sie gesehen hatten, ungemein spannend“.



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