New York, 03.02.1997
Das Fassbinder-Ethos: Fühle den Schmerz

Von Andrew Sarris

The New York Observer

Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) wird vom Museum of Modern Art mit der ersten kompletten Retrospektive in den Vereinigten Staaten geehrt. Gezeigt werden die 43 Kino- und Fernsehfilme, die er zwischen 1966 und seinem Tod im Alter von 37 Jahren 1982 gemacht hat. Viele der Filme werden auf neuen 35-mm-Kopien zu sehen sein, einschließlich einiger noch nie in Amerika gezeigter und des 15-Stunden Epos BERLIN ALEXANDERPLATZ (1980).
Fassinder war und ist, meiner Ansicht nach, der größte deutsche Regisseur seit dem Goldenen Zeitalter von F.W. Murnau, Fritz Lang und G.W. Pabst in den Zwanzigern und Anfang der dreißiger Jahre. Wie beschreibt man eine Karriere, die zugleich so produktiv und so verwirrend war? Im Augenblick möchte ich nicht versuchen, den Gipfel dieses Berges an Leistungen zu erklettern. Ich bleibe lieber unten mit Zeit-Teleskop und Notizbuch zur Eintragung von Eindrücken und Erinnerungen an einen vielfältigen und wunderbar komplizierten Künstler und Menschen.
Das erste Mal, dass ich von einem Fassbinder-Film hörte, war 1971 während des New York Film Festivals. Der Filmautor und Regisseur David Newman erzählte mir ganz aufgeregt, wie erotisch die expressionistischen Lippenstifte der Huren in PIONIERE IN INGOLSTADT wirkten. Ein paar Jahre später erkannte ich die Schauspielerin, die die Hauptrolle gespielt hatte – Hanna Schygulla, inzwischen weltberühmt geworden als Fassbinder-Ikone. Während der siebziger Jahre kam eine offenbar unerschöpfliche Menge von Fassbinder-Filmen nach New York, nicht immer in chronologischer Reihenfolge. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr es war, dass ich mich endlich ernsthaft mit einem Fassbinder-Film auseinandersetzte, aber ich erinnere mich an den Film: HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN. Im kommenden Semester werde ich dieses Werk aus dem Jahr 1971 – zusammen mit Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN (1978) – in meinem Kurs über den ausländischen Film an der Columbia University zeigen.
Ich muss gestehen, dass ich anfangs mit Fassbinder-Filmen Schwierigkeiten hatte. Das flache Feld seiner mise-en-scène, das Fehlen von traditionellen Hintergrund-Einstellungen wiesen auf seine Anfänge im Theater hin. Seine Kamera war meist statisch mit hier und da einem Zoom – nicht um Bewegung in die Szene zu bringen, sondern um eine neue statische Phase zu zeigen. Die Schauspieler spielten ungemein stilisiert, und die Handlung war nichts wirklich besonderes. Aber dann erinnerte ich mich, dass viele Kritiker und Kinobesucher dasselbe Problem mit Eric Rohmers Filmen hatten, weil es in ihnen so viele Gespräche und so wenig Handlung gab. Aber was für Gespräche! Fassbinder vertiefte sich nicht wie Herr Rohmer in das Innenleben seiner Figuren. Aber schließlich waren Rohmers Menschen schuldlose Bürger, während Fassbinders Menschen Opfer und Außenseiter, Häftlinge des bürgerlichen Systems waren.
Als ich HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN zum erstenmal sah, war ich abgestoßen von dem scharfen Zynismus, der die Beziehung zwischen Mann und Frau charakterisierte. Besoffene und brutale Ehestreitigkeiten schienen mir unerfreulich grotesk. Sie passten nicht in das aristotelische Maß, an das ich glaubte. Aber dann kam ein Moment der scheinbar harmlosen Gedankenlosigkeit einer gebildeten Schwester gegenüber ihrem ungebildeten und mundtoten Bruder, und plötzlich funkelte die Leinwand von Familienverrat – einem Verrat, der zur Katastrophe führte. Hanna Schygulla spielte die Schwester – und blitzartig kam die Einsicht, und das Fassbinder-Ethos stand leibhaftig vor mir. Fassbinder scheint sich mit seinen scheinbar albernen Seifenopern schlafend zu stellen, aber dann auf einmal bekommt der Zuschauer einen Stich, einen unbestreitbar klar zu erkennenden Schmerz zu spüren. Ob es nun DIE EHE DER MARIA BRAUN oder LOLA (1981 ), FONTANE EFFI BRIEST (1974), ANGST ESSEN SEELE AUF (1973), LILI MARLEEN (1980) oder der monumentale BERLIN ALEXANDERPLATZ ist, der Zuschauer muss jedes Mal durch einen Strom von absichtlichen Banalitäten waten, um diese Momente von psycho-sozialen Lichtblitzen zu erleben. Ich begann zu verstehen, warum Fassbinders mise-en-scène oft so flach erschien. Hier lehnte sich ein Künstler gegen den Druck der Gesellschaft auf, stand aber gleichzeitig seinen gequälten Figuren so nahe, dass er ihre Leiden teilte, ohne sie durch großangelegte, aber zwecklose Totalen klein zu machen.
Mit Hinweisen auf seine eigene Homosexualität – zum Beispiel in FAUSTRECHT DER FREIHEIT und den BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT – zog der Regisseur die Gehässigkeiten der unverhohlen schwulenfeindlichen Kritiker auf sich, deren es in den Siebzigern mehr gab als heute im AIDS-Zeitalter. Damals, in den Siebzigern, fanden viele in der schwulen Gesellschaft, dass auch ich ein Grenzfall von Homophobie war. Habe ich also mit Fassbinder eine Ausnahme gemacht, um meine Sünden abzubüßen? Keineswegs! Was ich an Fassbinder bewunderte, war, dass seine Arbeit sich nicht in Ekel und Selbsthass auflöste und dass er seine eigene geplagte Seele in einer umfassenden, wenn auch satirisch gehaltenen Kunst zum Ausdruck brachte. Und vor allem: dass er seinen Kummer niemals in einem Meer von Mitleid mit sich selbst oder mit seinen Figuren ertränkte.
Damals, als er mit Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Wim Wenders, Jean-Marie Straub und anderen als Teil des Neuen Deutschen Films – vergleichbar der Nouvelle Vague der Franzosen – definiert wurde, bemerkte ich einmal Fassbinder gegenüber, dass er der einzige Freudianer in einer Gruppe von Jung-Anhängern zu sein schien. Er nickte, vielleicht zustimmend, aber wer weiß? Jedenfalls ging er weiter als Albert Brooks, indem er seine Mutter – unter dem Künstlernamen Lilo Pempeit – in seinen Filmen auftreten ließ. Dass seine Themen und sein Stil den Einfluss von Jean-Luc Godard, Douglas Sirk und Sam Fuller zeigen, ist klar. Aber das rasende Tempo, die Reichhaltigkeit und die vielleicht lebensverkürzende Triebkraft seiner Karriere und seines Lebensstils waren ganz und gar die seinen. Er hat sich nicht genug Zeit gelassen auszubrennen, und nun brennt seine Kunst weiter mit einer Flamme, die wunderbar leuchtet und erhellt.

(Übersetzung: Maria Pelikan)



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