New York, 28.01.1997
Fall und Aufstieg des Rainer Werner Fassbinder

Ein abtrünniger Regisseur wird in einer MoMA-Retrospektive gefeiert / Von J. Hoberman

Village Voice

Fassbinders Tod im Alter von 36 Jahren hat ihn zur Legende gemacht. Er, der gleichzeitig der „böse Bube“ und das Wunderkind des Neuen Deutschen Films war, hatte sich zu Tod gearbeitet. Er war der produktivste und einflussreichste unabhängige Filmemacher der 70er Jahre – nicht nur in ganz Europa, sondern auch in Amerika.
Ein Kind der Gegenkultur und ebenso begabt im Kopfficken wie irgendein Rowdy-Guru jener Zeit, hatte sich der junge Fassbinder buchstäblich mit Gewalt zum Anführer eines Münchner Schauspielerkollektivs gemacht. So wurde er eine Art Charles Manson der Ästhetic, und so drehte er über 40 Spielfilme – einschließlich des 15-stündigen Epos BERLIN ALEXANDERPLATZ – während einer Karriere, die kaum ein Dutzend Jahre dauerte.
Nun, da sein einst beträchtlicher Einfluss seit 1982 mehr oder minder eingeschlummert ist, betritt Fassbinder das Pantheon – mit einer vollständigen Retrospektive, die Freitag im Museum of Modem Art eröffnet wird. Wäre ihm das recht gewesen? Fassbinder war – in vieler Hinsicht – ein Meister der Pose. Dieser griesgrämige, ungekämmte, unverhohlen homosexuelle, selbst eingestandene „Unruhestifter“ war ein Schauspieler, dessen größte Rolle er selber war: in seiner bekannten Lederjacke und seinem verbeulten Filzhut glich Fassbinder eher einem heruntergekommenen Indiana Jones, der Steven Spielberg im Streit um den Titel des Baby-Boomer-Philosophenkönigs in den Hintern tritt.
Damals regierte der junge Fassbinder. Sein kommerziell erfolgreichster Film DIE EHE DER MARIA BRAUN entkräftete die amerikanische Abneigung gegen den Klang der deutschen Sprache auf der Leinwand: er lief 53 erstaunliche Wochen lang im Cinema Studio. Aber das war damals. Laut Jose Lopez von New Yorker Films, den derzeitigen Verleihern von 14 Fassbinder Titeln, ist Fassbinder „völlig tot in den Kinos“.
Kann das Plazet des Museum of Modem Art einem Filmmacher, der einst in der ganzen Welt als der bedeutendste galt, den Glanz seines Ruhmes zurückerstatten? Oder hat Amerikas vielbesprochene Gleichgültigkeit gegenüber ausländischen Filmen Fassbinder auf immer ins Dunkel gerückt?
Fassbinders Einfluss ist deutlich erkennbar in solchen sonst so verschiedenen Talenten wie Jim Jarmusch, Lars von Trier, Pedro Almodovar, Derek Jarman, John Waters und Aki Kaurismäki. Sein eigenes Vorbild war Douglas Sirk, ein Filmmacher im Dritten Reich, der nach Hollywood flüchtete und sich dort wiedererfand, als der geschickt umstürzlerische Regisseur von solchen enorm rührseligen Filmen wie MAGNIFICENT OBSESSION und IMITATION OF LIFE.
Einer Strategie Sirks folgend, begann Fassbinder stilisierte Melodramen zu schaffen, die beim Publikum Anklang fanden, während sie den Status quo kritisierten. Er scheute niemals vor sensationellen oder grausigen Themen zurück: Seine Filme befassen sich mit Mördern, Terroristen, betrogenen Transsexuellen, rebellischen Teens, kleinbürgerlichen Selbstmördern, misshandelten Frauen und einsamen Neurotikern aller Sorten.
In allen Fassbinder Filmen geht es um den Pathos einer unerwiderten Leidenschaft, und die allerstärksten dieser Darstellungen sind, in ganz eigener Weise, verzerrte Selbstportraits. Der Regisseur kam nur wenige Monate nach der Niederlage des deutschen Reichs inmitten eines Chaos zur Welt (eine Wohnung vollgestopft mit obdachlosen Verwandten, an der Grenze des Bordell-Bezirkes). Seine Kindheit spielte sich während dem deutschen Wirtschaftswunder und der Verdrängung der Nazi-Vergangenheit ab. Mit sieben Jahren entdeckte er das Kino und begann es fast täglich zu besuchen. Ende der Sechziger Jahre war er einer der Auslöser des kulturellen Umsturzes.
Wie die Regisseure der französischen Nouvelle Vague begann Fassbinder mit herausfordernd billigen und exzentrischen Meditationen von Hollywood-Genre-Filmen: philosophische Gangster, Geschichten, die sich in den farblosen Vororten von München abspielten. Diese Filme waren zum großen Teil Kollektivprodukte mit einem Ensemble um Hanna Schygulla, die später ein internationaler Star wurde; und sie beleidigten gezielt selbst den stursten Bürger. Fassbinders erster Spielfilm LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD wurde auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin von 1969 mit höhnischer Herablassung empfangen. Aber Ende 1970 standen der 24-jährige Regisseur und seine Meute mit 11 fertigen Spielfilmen (die meisten davon auf 35 mm) an der Spitze des wiederbelebten bundesrepublikanischen Films.
Er war von Neurosen gehetzt. In einer Zeit steigender Kosten und schrumpfender Einkünfte war er ein Musterbeispiel des ökonomisch arbeitenden Filmemachers. KATZELMACHER, für nur 40.000 Dollar in drei Drehtagen fertiggestellt, enthält das treffende Epigramm: „Es ist besser neue Fehler zu machen als die alten bis zur allgemeinen Bewusstlosigkeit zu konstituieren.“ Selbst wenn er mit 35-mm-Film arbeitete, brachte Fassbinder seine Spielfilme für weniger als 250.000 Dollar auf die Leinwand.
Fassbinder war das personifizierte Wirtschaftswunder – obwohl seine Fähigkeit, Filme schnell und billig zu machen, gewiss ein Faktor seiner Leidenschaft für das Kino war. Während ein Perfektionist wie Alfred Hitchcock die tatsächliche Dreharbeit als eine eher langweilige Methode empfand, seine völlig durchgearbeiteten Drehbücher zu verwirklichen, so betrachtete Fassbinder eben diese Arbeit (wie auch Andy Warhol und andere) als das Mittel zur Schöpfung und Beherrschung der Szene. Kontrolle über Zeit und Raum -- sowie über Menschenleben – war Fassbinders Ziel. Die Filme selber waren ein Nebenprodukt.
Fassbinder war gewiss kein Formalist, aber sein Stil ist ein Ding der Schönheit. Bemerkenswert an seinen besten Filmen ist, wie zugänglich, elementar und sparsam, fast wie Karikaturen, sie den Alltag (Arbeit, Mahlzeiten, Geschlechtsverkehr) darstellen. Typisch für viele von ihnen ist die beinahe einfältige Handlung, die gewollt schlichte Szenerie – jede der aggressiv langen oder zweideutig kurzen Einstellungen ist direkt beleuchtet und auf ein oder zwei unbarmherzig entwickelten visuellen Ideen aufgebaut. Die Schauspieler sehen aus wie hingestellt und scheinen ihre Texte aufzusagen. Kurz, die Welt ist zur Bühne geworden.
Das Originellste an Fassbinders Werk ist sein Effekt. Sind diese Filme komisch oder traurig? Die trauervolle Atmosphäre ist beunruhigend komisch. Ich hatte immer angenommen, dass Fassbinders leicht verrückte Milieus eine komische Erfindung waren, bis ich in die Bundesrepublik kam und entdeckte, dass seine Stilisierungen – so ironisch sie auch sein mochten – immer eine Art von Wahrheit dokumentierten.
Mitte der Siebziger wurden Fassbinders Filme immer weniger unbefangen; sie kulminierten in der manierierten Hysterie von SATANSBRATEN und CHINESISCHES ROULETTE. Der englischsprachige Film DESPAIR (1977), nach einem Roman von Valdimir Nabokov, stellte zwar den Tiefpunkt seiner Kunst dar, etablierte ihn aber als Regisseur von internationalem Rang. Und im selben Jahr brachte das „New Yorker Theater“ ine zweimonatige Serie von Premieren heraus, die seinen Ruf im amerikanischen Untergrund bestätigten. Vincent Canby, der Filmkritiker der New York Times, nannte Fassbinder „das originellste Talent seit Godard“.
Aber obwohl das New York Film Festival und New Yorker Films ihn groß herausbrachten und amerikanische Kritiker wie Canby und Andrew Sarris ihn förderten, waren nicht alle auf seiner Seite. „Armes Filmland, dessen Gipfelpunkt die Filme von R.W. Fassbinder sind“, spöttelte John Simon. Und Pauline Kael, deren Herrschaft als Amerikas einflussreichste Filmkritikerin sich zeitlich ungefähr mit Fassbinders Karriere deckte, erwähnte seinen Namen nicht ein einziges Mal im Druck.
Die letzten fünf Jahre in Fassbinders Leben waren äußerst sprunghaft. Er machte weiterhin billig hergestellte Quickies (IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE DRITTE GENERATION) und unternahm außerdem weniger interessante, aber mehr prestigebringende literarische Adaptionen. Auf DESPAIR folgte seine Version von Alfred Döblins BERLIN ALEXANDERPLATZ. Sein letzter fertiger Film basierte auf Jean Genets QUERELLE, und ein Film nach Georges Batailles Das Blau des Himmels war geplant. Fassbinders Prestige stieg enorm nach seinem Tod (anscheinend durch eine Kombination von Überforderung und Drogen). Nach seinem Tod wurde BERLIN ALEXANDERPLATZ in New York gezeigt, der erstaunlich erfolgreich war. „Nie gab es bessere Kritiken über einen deutschen Film in Amerika“, sagte mir Ingrid Scheib-Rothbart, die damals das Filmprogramm des Goethe-Instituts koordinierte.
In der Bundesrepublik war BERLIN ALEXANDERPLATZ durchgefallen; aber schließlich war Fassbinder immer populärer in Frankreich und Amerika als zu Hause. Nachdem er seine Landsleute jahrelang verulkt hatte, wendete Fassbinder nun seine Aufmerksamkeit ihrer gemeinsamen Geschichte zu. Er beendete seine Karriere mit einer Fanfare von Nationalepen. BERLIN ALEXANDERPLATZ sollte im Zusammenhang mit LILI MARLEEN gesehen werden – einem romantischen Drama aus dem zweiten Weltkrieg, das 10 Millionen Dollar kostete und der bis dahin teuerste Film der Bundesrepublik war – und einer Trilogie von Filmen aus der Adenauer Zeit: DIE EHE DER MARIA BRAUN, LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS.
Hätte er weitergelebt, so wäre Fassbinder noch mitten in seiner Karriere. Er wäre heute 51 Jahre alt (ein Jahr älter als Bill Clinton). Was hätte er zum heutigen Kino gesagt – zu SCHINDLERS LISTE, zu AIDS und MTV, zur Wiedervereinigung Deutschlands, Arnold Schwarzenegger, der Krise des europäischen Films und dem Aufstieg von Sundance? Tatsächlich hat er fast all das vorausgesehen. Fünfzehn Jahre nach seinem Tod verspricht die MoMA-Retrospektive zu zeigen, dass Rainer Werner Fassbinder in vielem unser Zeitgenosse ist.

(Übersetzung: Maria Pelikan)



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