New York, 28.01.1997
Ein vereinigter Deutscher

Fassbinder komplett und restauriert / Von Guy Trebay

Village Voice

Er starb aufrecht in einem Sessel sitzend. Er starb nackt auf eine Matratze hingeworfen. Er starb am Boden zusammengesunken. Er starb an einer Überdosis von Modedrogen oder an einer Kombination von Drogen und Alkohol oder – laut seinem Freund Theo Hinz – an Schlafpillen, die er nahm, um sich der Schlaflosigkeit zu erwehren. „Wir wissen nicht, ob er sich umgebracht hat oder einfach zu viele Pillen genommen hat oder zu viel Whiskey oder so was ähnliches“, erklärte damals jemand von der Polizei. „Das einzige, was wir nicht in Betracht ziehen, ist Mord.“
Als man ihn fand, lief das Videogerät in seiner Schwabinger Wohnung. Die Frau, die den Toten morgens um 4 Uhr 30 fand, war seine Cutterin und Mitarbeiterin und auch, vielleicht, seine Geliebte und auch, wie es scheint, seine Gemahlin. Die Autopsie konnte nicht genau feststellen, woran Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 eigentlich gestorben war – und diese letzte Ungewissheit hätte direkt einem jener Fassbinder-Filme entspringen können, wo das Individuum wenig Wahl hat und der Ausgang meist wenig Erleichterung bietet. Der Regisseur war 37 Jahre alt, als er starb. Um einen Freund zu zitieren: „Sein Herz hat sich zu schnell aufgebraucht.“ Eine sentimentale Bemerkung, die in einem Fassbinder- Drehbuch ausgestrichen worden wäre.
„Ich hatte das Glück“, bemerkte Fassbinder einmal, „in einer Familie aufzuwachsen, in der es keine engere Bindung, also eigentlich keinen Bezugspunkt gab. Vielleicht hatte ich damals nach einem gesucht. Heute würde ich aber sagen, dass es gut war, dass es den nicht gegeben hat. Es hat mich reicher gemacht... Und freier als die meisten Menschen.“ Diese „Freiheit“, wenn man es so nennen kann, äußerte sich in einer Art Drang und Zwang: Fassbinder hatte einen Riesenappetit, sowohl was seine schöpferische Arbeit als auch sein Geschlechts- und Gefühlsleben anbelangte. „Er hat getrunken, zu viel gegessen, Drogen genommen,“ erklärt Laurence Kardish, Kurator der Video- und Filmabteilung im Museum of Modem Art. „Aber er konnte sich nicht bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, denn am nächsten Morgen musste er ja aufstehen. Er war unglaublich produktiv. Je mehr ich über sein Leben erfahre, desto mehr staune ich, dass er sich so lange gehalten hat.“
In Fassbinders letztem Film QUERELLE (1982) zitiert Jeanne Moreau öfters den Song „Each man kills the thing he loves”. Es ist ein Axiom des Fassbinder Mythos – zugleich mit seinen berühmten verdreckten Jeans, seinen Hosenträgern, seiner Lederjacke, seiner „angeblichen“ Homosexualität –, dass der Regisseur gegen sich selber und alle um ihn herum zerstörerisch grausam war. Diese Ansicht wird von Fassbinders Cutterin und Geliebten, die zur Eröffnung der MoMA-Retrospektive in New York ist, energisch bestritten. „Er war in vieler Hinsicht ein sehr normaler Mann“, sagt Frau Lorenz, die Fassbinders Leichnam zuerst entdeckte. „Er hatte eine behutsame, liebevolle, fast möchte ich sagen: bürgerliche Seite.“
Diese Ansicht stimmt nicht mit der konventionellen Vorstellung von einem Genie überein und schon gar nicht mit Fassbinders Gesamtwerk. In 17 Jahren hat er 41 Spielfilme gemacht und in einem einzigen aufreibenden Jahr mindestens drei 35-mm-Filme. „Das kommt alles von meiner Psyche“, bemerkte er einmal, „ich muss ununterbrochen arbeiten.“
MoMAs epische Serie, in der jeder Meter von Fassbinders Filmen – von DER STADTSTREICHER, ein Kurzfilm, den er im Alter von 20 Jahren machte, bis QUERELLE – gezeigt wird, begann mit einer Retrospektive in Deutschland, in der der verblassende Ruf des Regisseurs anlässlich seines zehnten Todestages aufgefrischt werden sollte. Damals waren drei Theater gesteckt voll und die Zuschauer standen Schlange entlang dem Alexanderplatz, au dem die Filme auf riesigen Bildschirmen im Freien vorgeführt wurden.
„Für uns ist das keine Auffrischung seines Rufs“, erklärt MoMAs Laurence Kardish. „Für uns war er immer einer der Größten. Schon seit Jahren wollten wir diese Retrospektive machen. Als er starb, da fielen seine Filme irgendwie in Vergessenheit.“ Kardish meint, dass das heutige Publikum und selbst Filmstudenten sich über das Ausmaß von Fassbinders Werk nicht im klaren sind. Die meisten kennen nur solche internationalen Erfolge wie DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT und DIE EHE DER MARIA BRAUN. „Und da gibt es noch so vieles: ANGST VOR DER ANGST, HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN , diese Alltagsfilme über die deutsche Bourgeoisie. Ich glaube, als er starb, versuchte er noch immer herauszufinden, was es bedeutet, ein Deutscher zu sein.“
Juliane Lorenz fügt hinzu, dass die Situation in Deutschland sowohl durch Fassbinders posthume Berühmtheit kompliziert wurde als auch dadurch, dass er der grotesken Banalität der deutschen Nachkriegskultur einen Spiegel vorgehalten hatte. „Rainer war immer im Ausland anerkannt und daher gab es immer noch einen Rest von Eifersucht“, erklärt sie. „Man wusste, dass er der wichtigste Regisseur des neuen deutschen Films war, aber er war kein good guy für die Kultur. Er war ein Star und, sagen wir’s, wie’s ist, wir haben kolossale Angst vor Stars. Sie erinnern uns an... na, Sie kennen ja unsere Geschichte.“
Dann war da noch das technische Problem der Filmkonservierung. Fassbinder hat schnell gearbeitet und mit einer künstlerischen Präzision von der die scheinbare Kunstlosigkeit mancher seiner Filme nichts ahnen lässt. Er behauptete immer, dass ihn das Format nichts anginge. „Er sagte, ‚die Größe ist mir egal – ich mache einfach Filme.’“ Manche seiner wichtigen frühen Filme, wie zum Beispiel ANGST VOR DER ANGST, den er fürs deutsche Fernsehen machte, wurden nicht auf dem herkömmlichen Negativ gedreht. Stattdessen wurde 16-mm-Umkehrmaterial verwendet. „Der atemberaubende Reichtum an Bildern“, wie der Kritiker Vincent Canby die früheren Filme charakterisierte, begann an Farbe zu verlieren und zu verblassen. „Er war im Begriff verloren zu gehen“, sagt Juliane Lorenz. Vor fünf Jahren machte die Fassbinder Foundation es sich zum Ziel, die verblassenden Umkehr-Originale auf 35-mm-Negativ zu übertragen. „Unsere erste Aufgabe ist, das Erbe zu bewahren.“
Die Verlockung zu spekulieren, was geschehen wäre, wenn Fassbinder weitergelebt hätte, wenn er nicht ausgebrannt wäre, nicht dem (medizinisch bedeutungslosen) Begriff „Erschöpfung“ unterlegen wäre, ist groß. „Die Leute sagen, er hat Selbstmord begangen“, sagt Lorenz. „Das ist lächerlich. Er hätte sich nie selber umgebracht. Fünfzehn Jahre lang hatte er intensiv mit Drogen zu tun. Aber das war bereits vorbei. Er hatte zwei Filme in Vorbereitung. Er wollte nach New York gehen und ROSA LUXEMBURG und COCAINE machen. Er hat immer in die Zukunft geschaut. Ich lebte damals mit ihm, und ich hatte nicht das Gefühl, dass er erschöpft war, denn er war immer so intensiv. Man konnte es nicht sehen. Seine Zeit war eben abgelaufen.“
Immerhin hinterließ Fassbinder BERLIN ALEXANDERPLATZ, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN, DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT und ANGST ESSEN SEELE AUF. „Seine Gesamtleistung war erstaunlich“, wie Laurence Kardish sagt. „Wenn man sich die verschiedenen Filme ansieht, die er in seinem so kurzen Leben gemacht hat, meint man, das sei unmöglich. Sogar die ‚Quickies’. Jeder Bildausschnitt ist genau ausgedacht. Und alle sind gut.“

(Übersetzung: Maria Pelikan)



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