Frankfurt/Main, 13.10.2004
Bis zum Anschlag: "Agnes und seine Brüder"

Seit Fassbinder hat sich keiner mehr ernstlich ans Melodram getraut. Roehler ist deshalb kein neuer Fassbinder, er will es auch gar nicht sein, weil das ziemlich lächerlich wäre. Natürlich hat er Fassbinders "In einem Jahr mit 13 Monden" (1978) geplündert

Frankfurter Allgemeine Zeitung

13. Oktober 2004 
Das einzig Exzentrische am deutschen Kino ist wohl seine Normalität. Keiner möchte auffallen. In Komödien darf nur gelacht werden, Dramen enthalten Dramatik in homöopathischen Dosen, Polizeifilme finden sowieso nur im Fernsehen statt, Genres sind so ordentlich voneinander unterschieden wie die Steuerklassen beim Finanzamt.

Für Emotionen gibt es einen grünen Bereich, und wo die Nadel zu heftig auszuschlagen droht, sollte besser ein Schild stehen: Sie verlassen jetzt den realistischen Sektor. Und dann gibt es noch die Filme von Oskar Roehler, den der Schauspieler Moritz Bleibtreu für einen Berliner Hinterhofregisseur hielt, bevor er das erste Mal mit ihm arbeitete.

Billig, schrill, hemmungslos

Roehler hat sich diesen Ruf hart erarbeitet und fühlt sich nicht verkannt. Er schrieb mit Christoph Schlingensief das Drehbuch zu "Terror 2000". Seine ersten Filme waren billig, schrill und hemmungslos und hießen "Gentleman", "Gierig" oder "Silvester Countdown". Nachdem er für "Die Unberührbare" (1999) einen Deutschen Filmpreis bekommen hatte und in der Normalität angekommen schien, mußte Roehler erst mal die Farce "Suck my Dick" drehen und im Auftrag von RTL Hannelore Elsner und Iris Berben aufeinanderhetzen: "Fahr zur Hölle, Schwester", das war sowenig ein leeres Versprechen wie "Der alte Affe Angst" (2003).

In Roehlers Filmen kehren Menschen ihr Innerstes nach außen, sie stürzen sich in ihre Obsessionen, und meistens gibt es dabei kein Zurück. Roehler hat ein Faible für extreme Gefühle - aber er interessiert sich weder für Psychologie noch für tiefempfundenen Weltschmerz, und das macht seine Filme so schillernd und unberechenbar.

Geplündert bei Fassbinder

Er selbst nennt diese Haltung im Gespräch lieber "schräg", und so muß man sich auch nicht wundern, daß sein neuer Film "Agnes und seine Brüder" zugleich ein Melodram und eine Familiengeschichte und eine Travestie ist, daß er gutgelaunt in alle möglichen Abgründe schaut. Seit Fassbinder hat sich keiner mehr ernstlich ans Melodram getraut. Roehler ist deshalb kein neuer Fassbinder, er will es auch gar nicht sein, weil das ziemlich lächerlich wäre. Natürlich hat er Fassbinders "In einem Jahr mit 13 Monden" (1978) geplündert. "Ein Meilenstein", sagt er, "da habe ich mich einfach bedient, weil ich die Geschichte so toll fand."
Fassbinders Film erzählte von einem Transsexuellen, der sich wegen eines Mannes einer Geschlechtsumwandlung unterzog und von diesem Mann zurückgestoßen wurde. Auch Agnes (Martin Weiß) begegnet dem Mann wieder, um dessentwillen er eine andere geworden ist, auch für sie ist es zu spät, wenn sie ihm im weißen Hochzeitskleid gegenübertritt. Ähnlich wie Fassbinder interessiert auch Roehler sich nicht spezifisch für Transsexuelle. Es geht um die Radikalität einer Liebe und um das scheinbar Unmögliche, das ein Mensch dafür auf sich nimmt. "Agnes ist wie ein Schutzengel für ihre Brüder", sagt Roehler, "aber sie selbst hat keinen Schutzengel mehr."

Nichts funktioniert in der Gesellschaft

Das erklärt auch, warum sie als Titelheldin weniger Raum als ihre beiden Brüder erhält und trotzdem präsent bleibt. Roehler hat aber auch noch eine andere Absicht, die dem Film nicht immer gut bekommt. Er will davon erzählen, daß in dieser Gesellschaft nichts mehr funktioniert. Weder Liebe, Sex und Familie noch Behörden und Dienstleistungen. Roehler ist allerdings kein großer Impresario in eigener Sache. Seine Sätze sind lang, er verheddert sich und flüchtet ins Vage. Er weicht nicht aus, aber er ist eben auch keiner, der Filme machte, um Thesen zu bebildern. Zum Glück. Er ist anwesend und scheint seine Sätze doch manchmal von ganz woanders zu senden, während er in seine Kakaotasse schaut. Und auf dem Weg zum Cafe war da ein fast kindliches Staunen, als er an einer Litfaßsäule vorbeikam, von der Agnes und seine Brüder blickten.

Zu dem Film, sagt er mit raumgreifender Handbewegung, habe ihn alles mögliche inspiriert: Lese-, Lebens- und Kinoerfahrungen. "American Beauty", Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen", sein Onkel, sein Opa und eben Fassbinder. Es geht also um Liebe und Tod, um den Würgegriff, in dem einen die Familie hält, um Sehnsucht, Haß und Anerkennung.

Voyeur mit Hochwasserhosen

Agnes' Bruder Hans-Jörg, den Moritz Bleibtreu mit Hochwasserhosen und Flachmann im Sakko spielt, ist ein Voyeur, der auf die Damentoilette schleicht und durch ein selbstgebohrtes kleines Loch in die Nachbarkabine schaut. Als Bibliotheksgehilfe sieht er statt Büchern immer nur Beine, Busen und Bauchnabel. Er besucht eine Selbsthilfegruppe für Sexsüchtige, obwohl er eigentlich nur eine Freundin haben will, und nach dem Rauswurf versucht er sich als Pornodarsteller. "Ich habe keine Ahnung, ob es da wirklich so zugeht", sagt Roehler, "aber ich will ja auch keine Realität abbilden."

Bruder Werner, den grünen Politiker, der sich mit Joschka Fischer am Telefon anschreit, legt Herbert Knaup mit einer gewissen Trittinhaftigkeit als ewigen Spießer an. Er kämpft für das europäische Dosenpfand, er fuchtelt mit der großen Heckenschere, er ist eine Karikatur, er soll es auch sein. Deshalb ist auch Katja Riemann als seine verwöhnte Gattin mit ihren esoterischen Anwandlungen und ihrer überproportionierten Mutterliebe genau richtig besetzt. Und wenn Agnes von ihrem eifersüchtigen Freund rausgeschmissen wird und bei einer älteren Frau (Margit Carstensen) Unterschlupf findet, dann wirkt diese Fassbinder-Hommage auf einmal wie ein Stück aus einem anderen Film. Sie tanzt und leidet, und ihre Biographie erscheint ihr so ungewiß wie ihr Geschlecht.

Schauspieler auf den merkwürdigsten Trips

In "Agnes und seine Brüder" paßt vieles überhaupt nicht zusammen. Wie es in unserer Gesellschaft aussieht zum Beispiel, das zeigt der Film dort am wenigsten, wo er sich am meisten darum bemüht. Und dort, wo er seine Agenda vergißt, erfährt man am meisten. Es ist das Erstaunliche in Roehlers Filmen, daß er seine Schauspieler immer wieder auf die merkwürdigsten Trips schicken kann, ohne sie oder sich zu verraten.

Da steht auf einmal Vadim Glowna mit langer weißer Mähne und Militärhosen in einer Fünfziger-Jahre-Villa, in der er sich verbunkert hat mit einem Mann, der zum Weinen neigt und selbstgebackenen Kuchen serviert. Ein Monster von einem Vater, eine Gestalt wie aus einem Film von David Lynch. Aber ob er die Mutter in den Tod getrieben und Agnes als Kind mißbraucht hat, muß nicht aufgeklärt werden. Entscheidend sind nicht Ursache oder Katharsis, sondern die Konsequenzen, in die einer getrieben wird.

Die schrillsten Frequenzen

Roehler geht dabei immer bis zum Anschlag. Er dreht auf, er entlockt jeder Tonlage die schrillsten Frequenzen, er kümmert sich dabei nicht um Wahrscheinlichkeiten, und gerade deshalb fällt sein Film auch nicht auseinander, obwohl man sich manchmal kaum vorstellen kann, wie er vom einen Bruder wieder zum anderen kommen will. Was den Film zusammenhält, ist seine Energie, das ist der Wille zur Transgression: Daß eine Leidenschaft nicht nur Behauptung bleibt, sondern sich bis zum Äußersten verausgabt; daß Kitsch und Katastrophe und Komik einander nicht ausschließen. So kommt Roehler immer wieder mit Szenen und Einfällen davon, die bei anderen nur lächerlich oder peinlich wirkten. Für seine Helden soll es nicht rote Rosen, sondern vor allem Neurosen regnen. Im Grunde war das schon immer so, auch wenn Roehler sagt, bei "Agnes" sei es ihm zum ersten Mal gelungen, dafür eine Form zu finden.

Auf seine alten Filme blickt der 45jährige daher eher distanziert zurück. "Silvester Countdown" mag er noch gelten lassen. Die Schlußszene von "Der alte Affe Angst" ist ihm längst viel zu pathetisch, und "Die Unberührbare", sagt er, "ist mein Klassiker, das würde ich nicht wieder machen". Seine früheren Filme nähmen sich viel zu ernst, wie sich überhaupt die meisten deutschen Filme zu ernst nähmen, sagt Roehler, ohne Namen zu nennen. Er fängt demnächst mit den Dreharbeiten zu "Elementarteilchen" an. Bernd Eichinger produziert, Franka Potente, Moritz Bleibtreu und Christian Ulmen spielen die Hauptrollen. Lustiger als bei Houellebecq wird es bestimmt.

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.10.2004, Nr. 41 / Seite 25

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