„Hast du dich selber lieb…“

Gedanken zu „Liebe ist kälter…“

In dem Film LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD zerrt Bruno einen Mann, den er und sein Freund Franz gerade zusammengeschlagen haben, in ein Auto, legt ihn auf den Hintersitz und schlägt die Tür zu. Im letzten Augenblick, in dem Bruchteil einer Sekunde bevor die Tür zuklappt, zieht der Bewusstlose seine Hand, die über den Sitz nach außen ragte, in den Wagen hinein. Es ist eine ganz kleine, schnelle Bewegung, sie ist fast nicht wahrnehmbar. In diesem schönen, langsamen, unerhört ruhigen Film ist diese Bewegung kostbar. Sie zerreißt die Kontinuität der Szene. Eine Detonation, welche die Straße mitsamt Bruno und dem Bewusstlosen hinweghebt, könnte nicht brutaler, könnte nicht einschneidender sein als dieses kleine Zucken eines Schauspielers, der Angst hat, seine Hand einklemmen zu lassen. Bruno fährt den Bewusstlosen auf einen Schuttplatz und legt auf ihn an. Im letzten Moment wacht der Bewusstlose auf, er – der völlig unschuldig ist – starrt in den Lauf der Pistole. Diese Einstellung, die in ihrer blanken Brutalität einem Italo-Western entliehen sein könnte, wird lang ausgehalten. Dass das weit aufgerissene Gesicht Entsetzen zu bedeuten hat, ist durch die Situation hinreichend klar, die Großaufnahme des sich im Staub wälzenden Körpers bestätigt nur das, was in diesem Moment erwartet wird. Der Sinn der Einstellung ist festgelegt, aber die Länge gibt dem im Zusammenhang schon allzu sehr fixierten Bild seine Unschuld wieder. Die kostbaren Sekunden vor dem sicheren Tod werden auch für den Zuschauer kostbar. Der Genuss, welchen man an Szenen des qualvollen Hinscheidens zu haben pflegt, wird bewusst, das Verführerische der Qual wird quälend erkannt. Da wird nichts entlarvt, nichts durch Nüchternheit aufgehoben, es wird hochstilisiert, die Schönheit wird noch schöner, die Qual noch quälender, das Vergnügen des Bildersehens noch vergnüglicher: ein schöner, ein kostbarer Augenblick.
Ist LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD ein Film von Rainer Werner Fassbinder oder der eines Kollektivs? Fassbinder beschreibt, wie er mit dem Kollektiv gearbeitet hat. Die Freiheit, welche die Mitakteure hatten, war nur eine von Fassbinder eingeräumte Freiheit (da der Regisseur am Schneidetisch über das Material frei verfügen konnte), aber Fassbinders Umgang mit Leuten nähert sich fast jener Sensibilität Rosa von Praunheims, die/der neulich im Gespräch meinte, sie/er habe das Filmen fast aufgeben wollen, weil sie/ihn eine Erfahrung so sehr deprimierte: nämlich dass die Schauspieler machen, was man ihnen sagt. Dass Ulli Lommel, ein Schauspieler, der schon in ein paar Filmen mitgespielt hat, alles macht, was man ihm sagt, ist für Fassbinder eine Art von Verrücktheit. Die Bedingungen, unter denen ein Schauspieler sich in der Filmbranche durchsetzen muss, fordern die Unterwerfung unter jeden Regisseurs-Schwachsinn. Fassbinder stiftet Ulli Lommel dazu an, sich selbst zu realisieren. Lommel wollte einen Hut aufsetzen, der an jenen erinnert, den Alain Delon in DER EISKALTE ENGEL trug. Lommel wird, durch den Hut und durch die von Delon geliehenen Gesten, zu einem Abziehbild Alain Delons. Die Unselbständigkeit des jungen Schauspielers wird durch den Hut überdeutlich, und sie fügt sich in die Unselbständigkeit des Fassbinder-Films ein, der von geklauten und abgeguckten und geschenkten Sachen lebt (eine lange Fahrt hat Straub dem Fassbinder überlassen).
Alle Regisseure, die nicht dumm sind, verweisen auf Vorbilder, Fassbinder verweist nicht, er zeigt seine Liebe eindringlich. Alle Schauspieler, die was taugen, haben Vorbilder, Ulli Lommel zeigt überdeutlich, was ihn beeindruckt hat und wem er gleichkommen möchte, und die unverhohlene Verehrung, die Liebe zu Kinofiguren realisiert sich so körperlich, dass ihm aus der Nähe zu den Vorbildern eine sehr intensive Originalität erwächst.
Unter den Zuschauern der Berliner Uraufführung gab es einige, die den Film dilettantisch fanden. Dass in „richtig“ gemachten Filmen ein Bewusstloser die Hand nicht bewegt, ist also bemerkt worden. Und es wird als Argument gegen den Film benutzt. Dass in „richtig“ gemachten Filmen die Einstellungen nicht so lang sind, ist also bemerkt worden. Und es wird auch als Argument gegen den Film benutzt.
Fast spielt sich der Film vor weißen Wänden ab. Was passiert, scheint sich gegen mächtige Widerstände behaupten zu müssen. Als wäre es an sich schon ein Frevel, dass überhaupt etwas passiert, dass etwas die Unschuld der weißen Leinwand verletzt. Hat man erst einmal akzeptiert, dass es keine Regel gibt, die man als Ausgangspunkt des Filmens akzeptieren muss, kann als Ausgangspunkt auch die weiße Leinwand genommen werden. Dort können Gegenstände placiert werden, die man sich minutenlang anschauen kann, als einzige Bewegung die Vibration von Kamera und Projektor registrierend. Wenn diese Gegenstände sich dann auch noch bewegen, ist ein Glückszustand erreicht, der einer mystischen Erfahrung gleichkommt. Zweifellos ist da ein mystischer Bodensatz, eine Verehrung für Bilder, hinter der der Gedanke zu stehen scheint, man könnte ein Stück innerer Realität fassen, wenn man nur sorgfältig genug mit Bildern umgeht. Fassbinders Film ist ein Genrefilm, einer aus dem Genre der Nach-Straub-Filme. Dass er heute in München entstanden ist, prägt ihn mehr als die Tatsache, dass er von Rainer Werner Fassbinder ist. LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD ist ein irrsinnig schöner, selbstverliebter, zarter Film, ein humaner Film in dem Sinne des Wortes von Meister Eckhart: „Hast du dich selber lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selber.“

Werner Kließ

Film (Velber), August 1969

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