Unterstzuoberst

Fassbinders „Welt am Draht“

Als Kinder haben wir uns gewiß alle an dem Spielchen begeistert. Wer versucht, einen Spiegel in einem Spiegel zu spiegeln, kann sich einen Tunnel aus Spiegelbildbildern schaffen, der ins Unendliche zu führen scheint. Das macht: jedes Abbild trägt ein neues Abbild des Abbildes in sich.

Dem nämlichen Prinzip gehorcht Daniel F. Galouyes Grundidee, nach dessen Roman „Welt am Draht“ Rainer Werner Fassbinder und Fritz Müller-Scherz ihren gleichnamigen Fernsehfilm gefertigt haben. Mit Hilfe des elektronischen Monstrums Simulacron kann eine „obere“ Welt sich aus einer Vielzahl von Schaltkreisen — Identitäts-, Kontakt- oder Projektionseinheiten genannt — eine simulierte untere Welt herstellen, deren Wirklichkeit der „oberen“ aber entspricht. Da sie ihr entspricht, ist diese elektronisch manipulierte untere Welt natürlich auf dem technischen Standard, ihrerseits mit Hilfe der Erfindung Simulacron eine neuerliche untere Welt herzustellen, und so immer fort einer logischen Gedankenkette entlang, die wie jener vorgespiegelte Tunnel aus Kindertagen mit ihrer Welt in der Welt in der Welt ins Unendliche zu führen scheint. Daß die jeweiligen „Bewohner“ ihrer jeweils fest umrissenen Welt an ihrer Umgebung nicht feststellen können, wo oben oder unten liegt, ob sie also leblose Schaltkreise mit vorprogrammierter Eigendynamik oder sogenannte wirkliche Lebewesen sind, gibt dem utopischen Spielmodell neben der Möglichkeit, Handlung zu entwickeln, erst seinen spezifischen Reiz.

Science-fiction also einmal nicht als Reise durch die Galaxis im wild schlingernden Raumschiff, Science-fiction als mitreißende Mischung aus Denkspektakel, Abenteuerlust und He-man-Bravour. Es dürfte kaum einen Zuschauer geben, der sich diesem breit gezielten Angebot hat entziehen können. Die Geschichte der „Welt am Draht“ ist offen für jede Interpretation philosophischer, christlicher, historischer ökonomischer und sozialer Vorstellungen und Vorgänge unserer Realität, die sich damit als scheinbar relativieren ließen, ja sie lädt zu solchen Interpretationen geradezu ein. Doch eben diese Offenheit gab, um im Genre der Fraglichkeiten zu bleiben, dem Film was faszinierend zu nennen wir übereingekommen sind.

Daß Fassbinder Konzessionen an das Massenprodukt Unterhaltungsfilm machen musste, indem er das „Happy-End“ nicht vermeiden durfte und vor allem den zweiten Teil zu ausgiebig zur konventionellen Räuberhatz ausarten ließ (Klaus Löwitsch als kleiner Mannix), mag man bedauern; den in sich völlig schlüssigen Film in Frage stellen kann das Manko nicht. Und wie dieser Regisseur seine komplizierte Geschichte so unverschämt sicher in der Hand behielt und dennoch Zeit fand, in Lieblingsposen und Zitaten (hervorragend das auf „Cabaret“) zu schwelgen, das zu verfolgen war neben aller Hingabe an die Spannung eine intelektuelle Lust.

Der Schaltkreis Fassbinder muß einem genialen Programmierer in die Hände gefallen sein, denn in dieser „Welt am Draht“ stimmte einfach alles: der Einsatz der bekannten und zuverlässigen Fassbinder-Schauspieler einschließlich aller überraschender Gäste (Eddie Constantine, Rainer Langhans, Christine Kaufmann in winzigen Episoden), die Fotografie (Michael Ballhaus), die musikalisch zuweilen bewusst gegensteuernde Untermalung (Gottfried Hüngsberg); und wie schließlich noch Peter Zadeks Fernsehfilm „Der Pott“ listig ins Spiel kam (Karl Heinz Vosgerau als kauderwelschender und singender Arzt im Simulacron), das hatte jenen Pfiff, wie Unterhaltungssendungen ihn höchstens einmal im Jahr erreichen. Womit Fassbinder seine widerborstige Vergangenheit endgültig hinter sich haben dürfte.

Hans-Dieter Seidel

Stuttgarter Zeitung, 18.10.1973


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