Visionen von der dreifachen Wirklichkeit

Rainer Werner Fassbinders Film „Welt am Draht”

Eins werden auch die Verächter dieses gewandelten Fassbinders nicht abstreiten können: Daß man als Betrachter gespannt und fasziniert vor dem Bildschirm saß, um hinter das Geheimnis der drei Welten zu kommen. Es mag schon sein, daß diese Faszination vor allem von Daniel F. Galouyes Science-Fiction-Roman ausging, dem Fassbinder – was als Verfilmer sein gutes Recht ist – nicht viel mehr als den Stoff, einige Konstellationen und wenige Details entnommen hat. Die Konsequenz von Galouyes Phantasie und die Unerbittlichkeit, mit der Fassbinder seine Story, ohne sie zu zerreden, über zwei Abende bis zum Finale vorantrieb, wird auf viele Zuschauer vielleicht verwirrend gewirkt haben. Von deutschen Spannungsfilmen – vom Durbridge-Krimi bis zum Kommissar – ist man schließlich gewöhnt, alles haarklein erklärt zu bekommen.

„Welt am Draht” spielt in einer Welt, die nicht weiß, daß sie künstlich ist. Fred Stiller (ausgezeichnet: Klaus Löwitsch) wird in dieser Welt Leiter der Computerabteilung im „Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung” (IKZ): Im „Simulacron”-Verfahren haben sich die IKZ-Wissenschaftler eine zweite künstliche Welt geschaffen – um die eigene Zukunft aus ihr ablesen zu können. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhaltensweisen und Bedürfnisse werden in ihr exakt vorausgelebt, was für die Industrieplanung von großem Interesse sein muß.

Als Fred Stillers Vorgänger auf dem Computerposten – Vollmer (Adrian Hoven) – plötzlich stirbt, beginnt Stiller Fragen zu stellen und kommt schließlich hinter die Erkenntnisse Vollmers: Er entdeckt, daß er selbst, seine Mitarbeiter und ihre Umwelt elektronische Spiegelungen einer realen Welt sind. Bisher hatten sie alle geglaubt, real zu sein und nur selbst eine künstliche Welt zu dirigieren. Vollmer und Sicherheitschef Lause (Ivan Desny) fanden die Wahrheit heraus und wurden von der realen Welt einfach abgeschaltet. Stillers Geliebte und Vollmers angebliche Tochter Eva (Mascha Rabben) ist – wie sich in den letzten Minuten herausstellt – das einzige Wesen, das ganz bewußt als Projektion der realen Welt in Stillers künstliche Welt gekommen ist, um über sie Bericht zu erstatten. Am Ende wird Stiller in der künstlichen Welt getötet, aber während er stirbt, rettet Eva aus Liebe sein Bewußtsein in einen Körper der realen Welt – der elektronisch geschaltete, künstliche Stiller war eine Imitation eines realen, aber größenwahnsinnigen Stillers. Das Bewußtsein des künstlichen Stillers lebt also, zwecks Happy-End, im Körper des realen Stillers weiter.

Fassbinders „Welt am Draht” hatte ihre Schwächen. Es gelang Fassbinder beispielsweise nicht, überzeugend glaubhaft zu machen, warum ausgerechnet Vollmer und nach ihm Stiller – beide sind kontrollierbare künstliche Produkte – Erkenntnisse systematisch entwickeln und über ihre Welt hinausgehende Zusammenhänge durchschauen können; schließlich könnten sie doch von der realen Welt (so geschieht’s ja mit Lause) ganz beliebig ausgeschaltet werden! Fassbinders Erklärung, der reale Stiller habe den künstlichen Stiller bewußt zappeln lassen, war nur eine Notlösung.

Fassbinder brachte es auch nicht fertig, die verschiedenen Ebenen seines Stoffes mit adäquater Präsenz darzustellen: So ausgezeichnet er die quälende Ungewißheit Stillers bei der Suche nach der Wahrheit in den Griff bekam, so ungelenk geriet ihm die letzten Endes tragische Liebesgeschichte zwischen dem künstlichen Stiller und der realen Eva, und so oberflächlich handelte er den dominierenden Konflikt zwischen einer unabhängigen Wissenschaft und privatwirtschaftlichen Interessen ab, der in Stillers Welt immerhin ein mörderisches Intrigenspiel und eine Pressekampagne auslöst.

Auch formal verließ sich Fassbinder allzu oft auf seine bewährten Plattitüden: Hinter jeder Tür tauchte ein Gesicht aus seinem Team auf und exerzierte maniriertes „Anti-Theater”, die klotzig dick aufgetragene Musiksauce reichte (am schlimmsten war’s im ersten Teil) vom Strauß-Walzer bis zu Wagners „Tristan“, Clubsessel kreisten klobig, und die Kamera fuhr oft zu artifiziell um Personen oder um Häuser herum. Lächerlich auch der Protz mit teuren Autos.

Andererseits aber hatte „Welt am Draht“ Momente, die sich von allen bisherigen Fassbinder-Manirismen bemerkenswert abhoben. Es gelang Fassbinder ausgezeichnet, die Handlung gleichzeitig simpel und doppelbödig zu inszenieren, eine Atmosphäre der Künstlichkeit zu erzeugen und die utopische Vision einer Welt, die das Produkt einer Idee ist, beklemmend spürbar zu machen. „Welt am Draht“ ist vielleicht kein Meisterwerk, aber ein Science-Fiction-Film, der sich neben Godards „Alphaville“ (dessen Held Eddie Constantine bei Fassbinder zu Gast war) und Truffauts „Fahrenheit 451“ durchaus behaupten kann. Und das ist doch schon einiges.

Eckhart Schmidt

Süddeutsche Zeitung, 18.10.1973



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