Voller Kraft, Verzweiflung, Gewalt und Anarchie

Vor 25 Jahren ist Rainer Werner Fassbinder gestorben: ein
Wiedersehen mit seinem prophetischen Science-Fiction-Film "Welt
am Draht"

Komisch, den Titel kennen viele: "Welt am Draht". Sie wissen auch, dass Rainer Werner Fassbinder der Regisseur ist. Dabei ist dieser Film kaum noch zu sehen. Im Kino ist er nie gelaufen. Seit 1973 lagert er im WDR-Archiv. In den vergangenen Jahren gab es kaum Wiederholungen. Auch auf DVD ist "Welt am Draht" nicht erhältlich; die Fassbinder-Foundation verhandelt noch über die Rechte. Eigentlich ein kleiner Skandal, denn vermutlich ist "Welt am Draht" neben "Metropolis" von Fritz Lang der beste Science-Fiction-Film, der je in Deutschland gedreht wurde. Und wer heute das Glück hat, die 206 Filmminuten in einer Videoaufzeichnung zu studieren, versteht ganz wie nebenbei vieles vom "System Fassbinder" - jenem Regelwerk, das die Werke des Regisseurs faszinierend lebendig erhält, obwohl er bereits vor einem Vierteljahrhundert gestorben ist, gerade 37-jährig.

Faktor Nummer eins: Fassbinders offenbar instinktives Gespür für Geschichten und Themen. "Welt am Draht" basiert auf einem Roman des US-Autors Daniel F. Galouye von 1964, der Anfang der siebziger Jahre in der Bundesrepublik als kleines Goldmann Taschenbüchlein erhältlich war – die Geschichte eines Großcomputers, mit dessen Hilfe es den Menschen möglich wird, künstliche Welten mit künstlichen Wesen zu programmieren. Und zu einer Zeit, da der Computer im Alltag der Menschen noch gar keine Rolle spielt, da an die Allgegenwart von Chips, PCs oder Parallelwelten à la Second Life noch gar nicht zu denken war, erkennt Fassbinder doch jene Frage, die in diesem Stoff steckt und die zweifellos eine existenzielle Bedeutung hat: Eine Welt, der es möglich ist, mittels Technologie eine andere, künstliche Welt zu erschaffen, kann prinzipiell nicht mehr sicher sein, nicht ihrerseits nur das Produkt eine Großrechners zu sein. Mit anderen Worten: jenes Thema, das der Hollywoodfilm "Matrix" 1999 so effektvoll zum Popsujet machte, Rainer Werner Fassbinder hatte es bereits 1973 auf seiner Liste.

Schöpferische Rechner

Faktor Nummer zwei: Fassbinders Konzentration auf die Figuren und ihr Innenleben. Natürlich ist das Tempo von "Welt am Draht" ein gänzlich anderes als jenes von "Matrix". Was an Actionmomenten, Prügeleien und Verfolgungsjagden in der Vorlage von Galouye steckt, hakt Fassbinder eher beiläufig ab. Viel mehr als die äußeren Konflikte interessieren Fassbinder die inneren: Was geht vor im Kopf eines Computerexperten, dessen Mentor sich unter merkwürdigen Umständen das Leben genommen hat und dessen eigenes Leben immer seltsamere Unregelmäßigkeiten aufweist, dessen Ahnung beständig wächst, womöglich sei die Welt um ihn herum gar nicht echt, ja, auch er selbst nur ein digital erzeugtes Wesen in einer gigantischen Rechnersimulation?
Was Fassbinders Filme bis auf den heutigen Tag so faszinierend machen, sind solche Figuren, ihre Echtheit, ihre Kompromisslosigkeit. Während seine Regiekollegen aus den wild politisierten siebziger Jahren ihre Figuren häufig nur als Stellvertreter für Ideen und Konzepte vorführen (weswegen die entsprechenden Filme heute so gnadenlos überholt wirken), sind Fassbinders Figuren immer nur im Hier und Jetzt, voller Kraft, Verzweiflung, Gewalt und Anarchie, grausam verletzend und fürchterlich verletzlich. Fast nie hat man das Gefühl, sie würden sich in ihrem Tun an irgendein Drehbuch halten. Fast immer hat man von Beginn an Angst um sie.

Faktor Nummer drei: Fassbinders grandiose Schauspieler. Barbara Valentin, Günter Lamprecht, Kurt Raab, Margit Carstensen, Gottfried John, Ulli Lommel - in "Welt am Draht" treten sie alle auf. Natürlich: ohne seine Schauspielerclique, mit der ihn eine vieles verzehrende Lebens- und Leidensgemeinschaft verband, konnte er nicht arbeiten. Und dazu kommen dann einige weitere Spieler (auch dies so charakteristisch für seine Arbeit), die er sich aus dem laufenden Fernsehbetrieb holte, die dort so notorisch wie gnadenlos unter Wert verkauft wurden. Klaus Löwitsch spielt die Hauptrolle des Computerexperten Fred Stiller. Und wann hat man diesen kantigen, kräftigen, permanent subpotenten, aber eben auch klugen Löwitsch, der sonst in Deutschland nur den Ballermacho geben durfte, so gut gesehen wie in "Welt am Draht"? Oder Karl-Heinz Vosgerau, ein schon damals leicht melierter, charmanter Charakterkopf im großkarierten Sacko überm Rollpulli. Später, in den achtziger Jahren, wird sich dieser Vosgerau sein Spätwerk in der "Schwarzwaldklinik" und bei den "Guldenburgs" erspielen müssen. In "Welt am Draht" gibt er einen zwielichtigen Institutschef, der die neue Technologie skrupellos in Dienst des profitsüchtigen Großkapitals stellen will. Beängstigend real.
Es ist immer wieder ein Wunder, was Fassbinder aus seinen Schauspielern herausgeholt hat. Aber man kann sich auch leicht vorstellen, welcher Preis an Kränkungen und Verletzungen jedweder Art dafür zu zahlen war. Wen wundert's, dass noch 25 Jahre nach dem Tod des Meisters zwischen den Überlebenden der eine oder andere Kampf tobt, wie beispielsweise gerade jetzt um die angemessene Pflege seines künstlerischen Erbes in der Fassbinder-Foundation. "Zickenkrieg" nennt das schnell der Boulevard. Spätfolgen schwerer Neurosen, das ist wohl treffender.

Faktor Nummer vier: Fassbinders Lust an der Inszenierung. "Welt am Draht" ist ein Gesamtkunstwerk. In vielen extremen Nahperspektiven nutzt er die pittoresken Formen und Farben des Siebzigerdesigns, um eine Grundatmosphäre der Künstlichkeit zu schaffen. Unter jeden Spielort ist eine spezifische Musik gelegt, vom elektronisch verfremdeten Bach über einen Sirtaki bis hin zum Orchestertango. Sein Kameramann Michael Ballhaus umkreist die Spieler in abenteuerlichen Fahrten; überall in den Räumen gibt es Glas, gibt es Spiegel, gibt es neue Perspektiven. Nie kann der Zuschauer sicher sein, ob er wirklich die Figuren sieht oder doch nur wieder ihr mehr oder weniger gebrochenes Abbild.
Und dazu der fremdelnde, künstelnde Fassbinder-Ton der Darsteller, mal leicht leierig, mal unterkühlt, dann wieder pathetisch – diese Künstlichkeit auch im Sprechen. Es ist ein Faszinosum, das viele damals, als sie die Filme in den Siebzigern sahen, gar nicht auf Anhieb verstanden haben: In ihrer scheinbaren Überdrehtheit gewinnen die Fassbinder-Filme gerade jene Überzeitlichkeit, die ein Pseudorealismus jedweder Jahre geschwind verspielt. Das Melodram als Grundperspektive der Existenz - vielleicht war das nie schlüssiger als heute. Vielleicht war "Welt am Draht" nie schlüssiger als gerade jetzt?

Existenzsprung nach oben

Faktor Nummer fünf: die Hoffnung. Mag das Geschehen auch noch so trist sein, in keinem Fassbinder-Film fehlt die Utopie, und sei es auch nur ein Quäntchen. Bei "Welt am Draht" ist es die Liebe einer Technikerin aus der wirklichen, richtigen Welt, die zum Schluss dafür sorgt, dass der Computerspezialist aus der falschen Welt einen Existenzsprung nach oben schafft, zumindest als Bewusstsein. Während er in der Simulation von Maschinenpistolen erlegt wird und zerschossen liegen bleibt, während die Kamera immer höher fährt und ein eingefrorenes Bild zeigt wie in einem Computerspiel im Status der Pause, berührt andernorts im neuen Körper der (nun offenbar echte) Fred Stiller völlig euphorisch Haare, Gesicht, Brust seiner (offenbar echten) Geliebten, schaut aufgeregt unter den sich öffnenden Fensterjalousien nach draußen auf die (offenbar echte) Welt. Das ist schön. Oft muss man am Ende eines Fassbinder-Films ein bisschen weinen.
Aber ist es denn auch wahr? Kann ein Mensch einen anderen Menschen lieben, wenn er weiß, dass dessen Bewusstsein einst nur berechnet war? Und ist die echte Welt dort draußen vor dem Fenster tatsächlich echt? Das ist der sechste Faktor: Fassbinder-Filme sind nie zu Ende. Sie gehen weiter in unserem Kopf. Kein Abspann. Nicht wirklich.

Tim Schleider

Stuttgarter Zeitung, 09.06.2007



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