Bin ich? Oder bin ich nicht?

In neuem Glanz: Rainer Werner Fassbinders „Welt am Draht“

Peter Märthesheimer schwebte ein einteiliges Fernsehspiel vor, als er Rainer Werner Fassbinder 1972 anbot, den Roman „Simulacron III“ des US-Amerikaners Daniel F. Galouye zu adaptieren. Der Regisseur, der das Buch in einer Nacht regelrecht verschlang, begab sich mit seinem Co-Autor Fritz Müller-Scherz sogleich an die Arbeit; das Szenarium entstand vorwiegend in Pariser Bistros, und nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Film die Länge eines Zweiteilers beanspruchen würde, stimmte der WDR ohne langes Zögern zu. „Man musste sich“, reflektierte der Hauptdarsteller Klaus Löwitsch Jahrzehnte später, „als Geldgeber auf ein unkalkulierbares Abenteuer einlassen. Das war, von heute aus betrachtet, von geradezu historischer Größe.“ Allerdings stellte der WDR, um seine Kosten wenigstens etwas abzufedern, die Bedingung, dass die Autoren jeweils 15.000 Mark ihres Honorars für den Ankauf der Verfilmungsrechte zur Verfügung stellen müssten. Insgesamt kostete „Welt am Draht“, wie der Film dann hieß, die erstaunlich geringe Summe von 950.000 Mark, was u.a. daran lag, dass Fassbinder viele Einstellungen nur ein einziges Mal und häufig auf Schnitt drehte, also kaum mehr Zeit und Material beanspruchte, als unbedingt nötig.

„Welt am Draht“, erstmals ausgestrahlt am 14. und 16. Oktober 1973 zur besten Sendezeit, aber danach nur sehr selten wiederholt, setzte sich in der Erinnerung als helles, kaltes Science-Fiction-Stück fest, mit einer merkwürdig verästelten, kaum nacherzählbaren Fabel. Jetzt, nachdem die restaurierte Fassung auf der „Berlinale“ (Sektion „Spezial“) vorgestellt wurde und auch auf DVD vorliegt, lässt sich die intellektuelle und artifizielle Strahlkraft des Films erst richtig einschätzen. „Welt am Draht“ als bittere Vision einer kommenden Gesellschaft in zeitgenössischem Ambiente: ein erkenntnisphilosophisch grundierter Zukunftskrimi und verstörendes filmisches Menetekel. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt. Ist der Mensch in der Lage, seine Rolle im Gefüge der Welt- und Zeitläufte selbst zu bestimmen? An welchen Fäden hängt der Einzelne? Wer manipuliert wen, mit welchen Mitteln und zu welchem Zweck? Was ist künstliches Bewusstsein? Kann das Individuum den Kreislauf der Gefangenschaft in einer fremd bestimmten Welt durchbrechen oder nicht? Was heißt Freiheit? Damit reißt „Welt am Draht“ existenzielle Themen an, die aus dem Jahr 1973 in die unmittelbare Gegenwart weisen. Anders als der Roman und auch als manche zeitgenössischen Existenzphilosophen beendete Fassbinder den Film mit einem vagen Hoffnungszeichen. Sein Held, der Computerspezialist Stiller (ein Verweis auf Max Frisch), wird in der künstlichen Welt, die ihm lange Zeit als die reale erschien, von Kugeln durchsiebt und wacht in der „richtigen“ wieder auf: „Ich bin. Ich bin.“ Unbeantwortet bleibt, ob diese richtige Welt nicht vielleicht auch nur eine Computersimulation – eine virtuelle Realität – ist, wie die beiden anderen Welten, die im Lauf des Films zu sehen waren. Eine solche Verunsicherung des Zuschauers war damals gewollt, und sie erweist sich auch heute noch als beklemmend.

Für seinen erkenntnistheoretischen Exkurs benötigte Fassbinder keine teuren futuristischen Studiobauten. Er drehte vorwiegend an Originalschauplätzen, u.a. in Pariser Vorstädten mit steil aufragenden Wohnsilos, aber noch ohne fest angelegte Straßen, in Millionärsvillen, Bürohäusern oder Shopping Malls aus Beton und Glas. Der von Kurt Raab entworfene Computerraum fasziniert auch heute noch mit seinen silberglänzenden Wänden und Monitoren, den die Kamera in einem 360-Grad-Schwenk auch physisch erfahrbar macht. Michael Ballhaus fotografierte fast immer aus Untersicht: Lange, leere Flure oder drückende Zimmerdecken mit ihren unendlichen Reihen von Neonleuchten tragen wesentlich zur künstlich-eisigen Tristesse des Films bei. Auch das Spiegelmotiv zieht sich prägend durch „Welt am Draht“: Figuren kommunizieren über Spiegel miteinander, verschwinden hinter ihnen oder erblicken ihre Gesichter in zerbrochenen Spiegeln. Bis auf Klaus Löwitsch in der Rolle des Stiller, der sich, mit äußerster physischer Kraftanstrengung und stets am Rand des Wahnsinns balancierend, als moderner Humphrey Bogart durch die Handlung kämpft, hat Fassbinder die meisten anderen Darsteller zu einem wenig bewegten, fast somnambulen Spiel angehalten: puppenhafte, künstliche Menschen in künstlichen Welten, mit Geheimnissen, die der Film nur partiell preiszugeben bereit ist.

Um diese „Künstlichkeit“ zu betonen, besetzte Fassbinder zahlreiche Nebenfiguren mit Schauspielern der 1950er-Jahre, aus einer Filmepoche also, die fast schon vergessen war. Die Auftritte von Adrian Hoven, Ivan Desny oder Christiane Kaufmann, Joachim Hansen, Elma Karlowa, Bruce Low oder Walter Sedlmayr veranlassten damalige Publikumszeitschriften, die Ausstrahlung von „Welt am Draht“ mit launigen Überschriften anzukündigen: „Opas Stars in Bubis Fernsehen“ oder „Der Bürgerschreck greift nach den ,alten‘ Stars“. In der Berichterstattung nahm das – oder auch die Tatsache, dass sich Hanna Schygulla die Freiheit genommen hatte, sich vorübergehend aus dem Fassbinder-Team zu verabschieden – sehr viel mehr Platz ein als die philosophischen Fragen, die den Regisseur beschäftigten. Heute, nach „Matrix“, „Dark City“ oder „Virtuosity“ und im Zeitalter tausendfacher virtueller Realitätsebenen, wirkt „Welt am Draht“ umso mehr als kühne Vision, die, wie Fassbinder 1973 sagte, „einen gewissen Horror erzeugt. Natürlich entsteht der Zweifel, mehr als kühne Vision, die, wie Fassbinder 1973 sagte, „einen gewissen Horror erzeugt. Natürlich entsteht der Zweifel, inwieweit man selber nur eine Projektion ist, denn in dieser Welt gleichen die Projektionen der Wirklichkeit.“

„Welt am Draht“ erschien zeitgleich mit der Weltpremiere der restaurierten Fassung auf der „Berlinale“ auf DVD (Anbieter: Arthaus Premium). Überwacht wurde die Restauration von Kameramann Michael Ballhaus. (2DVDs; Extras: „Fassbinders ‚Welt am Draht’ – Blick voraus ins Heute“; „Rainer Werner Fassbinder, 1977“; Fassbinders Kurzfilme „Das kleine Chaos“ und „Der Stadtstreicher“; Fotogalerie; Filmhistorische Dokumente als pdf; Booklet mit einem Text des Filmwissenschaftlers Bernd Perplies)

Ralf Schenk

film-dienst, fd 6/2010, 16.03.2010



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