„Die Welt am Draht”

Fernsehspiel von Rainer Werner Fassbinder
ARD/WDR 14./16.10.1973

Rainer Werner Fassbinder vermeidet bei seinem zweiteiligen Fernsehfilm bewußt die vordergründig triviale Ebene der Kriminalspiele, hält sich an die intellektuellen Kinoutopien. Manche Stimmungen, ja Szeneneinstellungen (das Schwimmbad, die Architektur der Räume, die Flure) erinnern an „Alphaville“, aber auch an „Fahrenheit“, während auf einer Cabaret-Bühne eine Marlene-Dietrich-Imitation die Schlussszene von Josef von Strindbergs „Dishonered“ nachspielt. Reine Inside-Jokes verdichten sich zu einem Puzzlespiel für Cinéasten, und obwohl Fassbinder und Müller-Scherz die komplizierten Verwicklungen des Romans von Galouye entwirrt haben, wird das Stammpublikum für unterhaltsame Fernsehspiele dem immer noch sehr komplizierten Geschehen nicht so ohne weiteres zu folgen gewillt sein. Das ist im Grunde schade, denn sowohl die Geschichte als auch ihre durchaus professionelle Machart verdienen einiges Interesse.
Professor Henri Vollmer, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung, hat mit Simulacron I ein Computersystem von ungewöhnlichem Ausmaß entwickelt. Simulacron I ist eine künstliche Welt, in der Attrappen von Menschen, sogenannte Indentitätseinheiten als Schaltkreise existieren, denen bestimmte Programme eingegeben werden, an denen man bestimmte Entwicklungen für die wirkliche Welt voraustesten kann. Als Professor Vollmer die schreckliche Entdeckung macht, daß er selbst nur als Schaltkreis in einer ebenfalls bereits imaginären Welt lebt, dreht er durch, nimmt sich dem Anschein nach das Leben. Mysteriöse Vorgänge erwecken das Misstrauen seines Nachfolgers Fred Stiller. Auf einer Party verschwindet plötzlich der Sicherheitschef Günther Lause. Bei Stillers Nachforschungen ergibt sich, daß sich offensichtlich niemand mehr an die Existenz von Lause erinnert: Edelkern sei von je her der Chef des Sicherheitsdienstes. Stiller wird allmählich immer unbequemer: seine Nachforschungen im Institut, seine Weigerung, bestimmten wirtschaftlichen Interessenvertretern Computerergebnisse über die Zukunft der Marktlage zu überlassen, macht ihn für den mächtigen Chef des Unternehmens untragbar, weil er vor allem wirtschaftliche Interessen vertritt, was allerdings auf Grund seiner Verantwortung gegenüber dem Staat nicht haltbar ist. Auch Stiller kommt hinter das Geheimnis, in der Tochter des Professors entdeckt er den Kontaktmann aus der wirklichen Welt, in einem dramatisch mehrfach gebrochenen Finale endet der Film hoffnungsvoll.

Vordergründige Sensationsmache gibt es hier nicht, doch auch nichts, was über die Geschichte selbst hinausführen könnte. Zwar sind die Verflechtungen von Politik, Wissenschaft und Industrie nicht unkritisch beleuchtet, aber es fehlt auch hier die konsequente Stellungnahme und es sind nur einzelne, nämlich Fred Stiller, der nicht an den normalen Tod seines Vorgängers glaubt, der Arbeiter Walfang, der nach der Entlassung Stillers zum Streik aufruft und der Reporter Rupp, der ebenfalls hinter die Geheimnisse kommt.
Die Operationen im Weltall sind reale Abenteuer geworden. Computer erfüllen unzählige Tätigkeiten des Menschen besser, schneller und zuverlässiger. Fern sind vom heutigen Standpunkt aus gesehen die literarischen Utopien eines Jonathan Swift, Jules Verne, George Orwell, Aldous Huxley oder H. G. Wells, fern auch ihre filmischen Nachdichtungen.
In seiner Geschichte um die Zeitung, die die Ereignisse vom kommenden Tag vorwegnimmt, gibt René Clair 1944 („Was morgen geschah“) einen humorvollen Kommentar zum Wunschtraum einer möglichen Zukunft; in Henry Kuttners Androidengeschichte „Die anderen unter uns“ begeht der Protagonist am Ende Selbstmord, als er erkennt, daß er kein echter Mensch ist.

„Irgendwo tief in seiner Brust empfand das kleine blitzende Ding, das in diesem Augenblick wie das Gehirn eines Menschen dachte, Bruchteile einer Sekunde lang gläubiges Staunen“; in Daniel Francis Galouyes „Simulacron III“ (literarische Vorlage für „Die Welt am Draht“) wird der Zukunftsforscher Professor Vollmer aus der Liste der „Existierenden“ gelöscht, als er erkannt hat, daß die Welt, in der er lebt, auch nur ein Kunstprodukt einer übergeordneten Welt ist. Computer, Roboter und Androiden sind die markanten Zentralfiguren der modernen Utopien. H. G. Wells’ Vorstellungen von einer Reise quer durch die Vergangenheit und Zukunft („Die Zeitmaschine“) wird in der modernen Literatur und der ihr folgenden Filme wieder aufgegriffen. In Franklyn Schaffners „Der Planet der Affen“ entdeckt der amerikanische Astronaut Charlton Heston am Ende in dem von hochzivilisierten Affen bewohnten Kontinent die alte, atomzerstörte Erde wieder, aus deren Trümmern die amerikanische Freiheitsstatue herausragt, seine Reise zum fernen Kontinent ist eine Reise durch die Zeit. In zahlreichen Fortsetzungen des erfolgreichen Films reisen Menschen und Affen quer durch die Zeiten, und in der von Rainer Werner Fassbinder und Fritz Müller-Scherz geschriebenen Fernseh-Geschichte „Die Welt am Draht“ gibt es mit Simulacron I, II und III drei Zeitebenen, deren eine in der Vergangenheit, den dreißiger Jahren angesiedelt ist. Schauplatz des Geschehens ist eine künstliche Welt, die von der echten, beziehungsweise ihrer Abgesandten Eva Vollmer, überwacht wird.

Heiko R. Blum

Medium Nr. 9, 1973



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