Fassbinders „Welt am Draht“, restauriert

Ich denke, also bin ich wahrscheinlich nicht
 
18. Februar 2010 Das deutsche Kino ist nicht sehr reich an Beispielen von Phantasien über die Zukunft. Auch für Rainer Werner Fassbinder war Science-Fiction nicht das bevorzugte Themenfeld. Aber wie immer, wenn Fassbinder sich eines Sujets annahm, kam bei seiner einzigen Arbeit fürs Genre etwas Besonderes heraus: der zweiteilige Fernsehfilm „Welt am Draht“. Der WDR hat ihn produziert, die ARD ihn im Oktober 1973 ausgestrahlt. Ein paar Tage nachdem der andere die Zeiten überdauernde Science-Fiction-Film eines Deutschen, Fritz Langs „Metropolis“, in seiner auf beinahe die ursprüngliche Länge rekonstruierten Form bei der Berlinale aufgeführt wurde, kam „Welt am Draht“ seinerseits restauriert dort im ausverkauften Kino International zur Aufführung. Die DVD ist gerade erschienen.
 
Wenn man den Film heute sieht, fällt es schwer, sich daran zu erinnern, dass zur Zeit seiner Entstehung von virtuellen Welten, umfassender Digitalisierung, von Computerspielen, Algorithmen, social commerce und solcherlei noch überhaupt nicht die Rede war. Geschweige denn, dass diese Phänomene den Alltag bereits durchdrungen hätten. Das ist bei Science Fiction doch immer so, könnte man sagen, aber die prognostische Genauigkeit der „Welt am Draht“ geht schon um einiges darüber hinaus, was wir aus anderen alten Science-Fiction-Filmen in unserer Welt heute wiederfinden. So ist es kein Wunder, dass vor allem „The Matrix“ sich auf Fassbinders Film beruft.
 
Ist unsere Wahrnehmung programmiert?
 
Denn Fassbinder hat – auf der Grundlage des Romans „Simulacron III“ von Daniel F. Galouye von 1964 – einen Film gedreht, der viele der Fragen stellt, die uns heute umtreiben: Wie leben wir im Bewusstsein davon, dass unsere Handlungen aufgezeichnet und elektronisch weiterverarbeitet werden? Wenn wir nicht nachvollziehen können, wer und was unser Tun bestimmt, wie können wir uns als Subjekte begreifen? Sind wir nur Projektionen eines höheren Bewusstseins, einer komplexeren Struktur untergeordnet? Leben wir in einer Parallelwelt, und wenn ja, parallel zu was? Ist unsere Wahrnehmung dessen, was wir als Wirklichkeit betrachten, bereits programmiert? Wie viel Sinn steckt noch in der Frage, ob etwas echt sei oder nicht – und wie viel Sehnsucht? Und spielen die Antworten auf all das überhaupt eine Rolle?
 
Für Fassbinder unbedingt, das gibt dem Film seine Dringlichkeit. Gleichzeitig ist Fassbinders Stil, seine Art, Blicke und Gesten zu inszenieren, die Figuren in Spiegelkabinetten zu plazieren oder seine Neben- und Kleinstdarsteller in nahezu statuarischer Trance zu halten, bestens geeignet, Fragen solcher Art aufzuwerfen. Recht früh im Film gibt es eine Party bei Siskins (Karl-Heinz Vosgerau), dem Vorstand des Instituts für Kybernetik und Zukunftsforschung, in dem der Film hauptsächlich spielt. Im Pool wiegen sich ein paar muskulöse Männer oder schwingen an den Turnringen halb im Wasser, zwei Mädchen springen ein ums andere Mal kopfüber ins Becken, am Rand lagern ein paar Frauen im Abendkleid, dazu gibt *Solange Pradel, die aussieht wie Ingrid Caven, vor Playback Marlene Dietrichs Song von den „Boys in the Back Room“ (den diese in „Destry Rides Again“ gesungen hatte). Und Klaus Löwitsch streicht umher, als sei er der einzig Lebendige in der Unterwelt. Aber ist er das?
 
Eine Folge mysteriöser Mordanschläge
 
„Ich weiß etwas, das du nicht wissen darfst, weil sonst die Welt, wie wir sie kennen, untergeht“, sagt der technische Leiter des Instituts. Dann verglüht er in einem Stromschlag von 800 Volt zu schmerzhaften elektronischen Störgeräuschen, und alle sagen, es sei ein Unfall gewesen. Klaus Löwitsch, genannt Stiller, ist sein Nachfolger, und er glaubt etwas anderes. Oder ahnt es. Und so beginnt eine Folge von Mordanschlägen auf ihn, die anonym erscheinen, etwa durch vom Kran fallende Zementplatten oder einen umstürzenden Baum. Die Störgeräusche werden stärker, wir spüren und hören gleichsam die Verkabelung der Welt, die der Titel ja schon benennt. Personen verschwinden, Stiller wird überwacht, ein Polizist erinnert sich nicht, ihn jemals gesehen zu haben, obwohl sie kurz zuvor miteinander sprachen, und Eva (Mascha Rabben), die Frau, die Stiller liebt, benimmt sich auch merkwürdig. Stiller weiß natürlich, dafür ist er ja zuständig, dass sein Institut eine Parallelwelt mit knapp tausend „Einheiten“ (Personen) entwickelt hat, die als Spiegelung der Welt, die er bewohnt, programmiert ist und in die er, wenn er sich einen verkabelten Taucherhelm aufsetzt, als Projektion eintreten kann. Aber kann er sich sicher sein, dass es nicht auch eine Welt gibt, in der er und die seine programmiert wurden?
 
Fassbinder erzählt uns diese luftabschnürende Geschichte mit der größten Freiheit, die er sich nehmen konnte. Nicht nur, dass wir in der Partygesellschaft und andernorts nahezu alle entdecken, die er gern um sich hatte und die gut aussahen – die Gästeliste ist lang und umfasst von Eddie Constantine und Gottfried John über Christine Kaufmann zu Werner Schroeter auch Magdalena Montezuma, zur Darstellerriege gehören unter anderen Günter Lamprecht, Margit Carstensen und Ulli Lommel.
 
Die Restaurierung ist fabelhaft
 
Es gibt Verfolgungsjagden und tolle Autos, einmal passieren wir beiläufig einen schwarzen Koch, der sich eine Serviette um den Hals gebunden hat und sonst nicht viel anhat unter seiner Schürze, und Barbara Valentin spielt eine Sekretärin, die in langen, tiefdekolletierten Lurexkleidern zur Arbeit kommt. Das Institut ist selbst nach damaligen Standards nicht futuristisch möbliert, sondern auf eiskalte Art modern, aus Plastik, Glas und Stahl, kombiniert mit jeder Menge Zeugs, das überall herumsteht, mit Teppichen, bunten Telefonen, zahlreichen Spiegelflächen. Bei der Vorstellung einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prognose des Instituts für die nächsten zwanzig Jahre vor der Presse hören wir „An der schönen blauen Donau“ wie in Kubricks „2001“ – das ist der einzige Hinweis, den Fassbinder uns aufs Genre gibt: indem er einen fünf Jahre älteren Film zitiert.
 
Michael Ballhaus, der den Film fotografiert und die Restaurierung (die phantastisch aussieht) künstlerisch geleitet hat, hält die Kamera, so scheint es, in konstanter Bewegung, umfährt die Figuren, durchstreift die Flure und findet immer wieder und immer häufiger die Reflexionen der Personen in Schreibtischplatten, dem verspiegelten Computerraum natürlich und auf polierten Oberflächen aller Art. So gewinnt der Film eine ungeheure Dynamik nicht nur in den waghalsigen Actionsequenzen, in denen Löwitsch seine erstaunliche Fitness zur Schau stellen kann, und gleichzeitig liegt eine große Traurigkeit vor allem über seiner Figur. Denn er weiß, was er nicht wissen darf, und muss dafür sterben, damit die künstliche Welt erhalten bleibt. Und dann schenkt ihm Fassbinder doch noch ein richtiges Leben, möglicherweise sogar jenseits der großen falschen Wirklichkeit. Womit er nichts von seiner Vision zurücknimmt, aber seine Freiheit ihr und jeder Paranoia gegenüber behauptet.
 

Verena Lueken
 
FAZ.NET Stand: 19.02.2010
 
Frankfurter Allgemeine Zeitung

(* In der Printausgabe der FAZ vom 17. Februar 2010 war an dieser Stelle irrtümlich Ingrid Caven als auftretende Sängerin in dieser Szene angegeben gewesen.)



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