Beschreibung der Maßnahme

Fassbinders WELT AM DRAHT: NEW MASTER

Der Stellenwert von WELT AM DRAHT ist für die deutsche Filmgeschichte und für das Gesamtwerk von Rainer Werner Fassbinder vielschichtig zu erfassen und gar nicht hoch genug einzuschätzen. Der zweiteilige Fernsehfilm WELT AM DRAHT ist eine der frühen Arbeiten Fassbinders für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) und neben BERLIN ALEXANDERPLATZ und ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG ohne Zweifel eine seiner wichtigsten Arbeiten für das Fernsehen. Zudem widmet sich der Film einem nicht nur damals, sondern auch heute noch hochaktuellen Thema. Bezogen auf den 1964 erschienenen Roman Simulacron 3 von Daniel F. Galouye geht Fassbinder mit dem Stoff frei um. Als an „virtuelle Realität“ noch nicht zu denken war, hat nicht nur Daniel F. Galouye den Schlüsselroman zum Thema geschrieben, sondern auch Fassbinder seinen Film über das Thema gemacht.
 
„Es ist eine sehr schöne Geschichte, die Welt am Draht heißt und die eine Welt schildert, wo man mit einem Computer Projektionen von Menschen schaffen kann. Und dadurch entsteht natürlich der Zweifel, inwieweit man selber nur eine Projektion ist, denn in diesem Denkmodell gleichen die Projektionen der Wirklichkeit. Vielleicht hat eine andere größere Welt uns als Denkmodell geschaffen? Es dreht sich hierbei um ein altes philosophisches Modell, das hier einen gewissen Horror erzeugt. Ich habe mit diesem Film versucht, mit allen den zur Verfügung stehenden technischen Mitteln so perfekt und ordentlich wie möglich zu arbeiten.“ *'
 
WELT AM DRAHT ist einer der wenigen deutschen Science-Fiction-Filme aus jener Zeit. Schon 1973 wurde dem Film ein Stellenwert zugemessen, der wie es in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Oktober 1973 zur Erstausstrahlung hieß, sich „(...) neben Godards Alphaville und Truffauts Fahrenheit 451 durchaus behaupten kann. Und das ist doch schon einiges.“ Angesichts einer zunehmenden Digitalisierung der Realität – bis hin zu Ängsten einer sich in Virtualität und Überwachung auflösenden Realität – ist WELT AM DRAHT an dem Punkt hochaktuell, wo er schon 1973 die Frage nach einem „Second life“ aufwirft. Und er dreht die Frage noch eine Stufe bis hin: Welche Realität ist eigentlich die reale? Welche Simulationswelt bestimmt eigentlich welche, um verlässliche prognostische Ergebnisse über die „eigene“ Welt zu bekommen? Inwieweit ist es überhaupt für jemanden möglich – als Teil einer möglichen Simulation – diese zu erkennen? Wie fragt der Hauptdarsteller Stiller (Klaus Löwitsch) zu Beginn des 2. Teils von WELT AM DRAHT: „Wer sagt uns denn, dass wir hier auch nicht ein Computer sind? Sie, ich, alle hier. Vielleicht sind wir auch nur elektrische Schaltkreise.“
 
Fassbinder setzt diese abstrakten Fragen pragmatisch und unterhaltsam um. Über WELT AM DRAHT sagt er selbst, dass es „ (...) das wichtigste ist, dass der Film einen Unterhaltungswert hat. Der neuere deutsche Film hat nämlich seit langem versäumt, sein Publikum zu unterhalten. Wir Regisseure versuchen vor allem Probleme darzustellen, ohne dabei an den Unterhaltungswert zu denken. Meiner Meinung nach muss man beides vereinbaren können, und wenn es gelingt, wird man eines Tages vielleicht auch einen Film machen können, der internationalen Erfolg hat.“ *''
 
Mit WELT AM DRAHT hat er auch für sich neue Wege beschritten, die insbesondere durch die Zusammenarbeit mit dem Kameramann Michael Ballhaus einen einzigartigen Ausdruck fanden. So schrieb Wolf Donner anlässlich der Erstausstrahlung in Die Zeit vom 19. Oktober 1973 „(...) von einer visuellen Dichte und Imagination, von einer professionell-perfekten Komposition, die heute im deutschen Film keiner wie Fassbinder zu evozieren vermag (...).“ Die besondere Bedeutung des Films wird an einem weiteren Punkt unterstrichen: Neben dem vier Jahre später entstandenen, zweiteiligen Fernsehfilm BOLWIESER ist WELT AM DRAHT die umfangreichste Zusammenarbeit zwischen Rainer Werner Fassbinder und Michael Ballhaus und zeigt dabei alle Elemente ihres künstlerischen Zusammenwirkens, das ihre gemeinsamen Projekte in den siebziger Jahren auszeichnet. Beginnend mit WHITY (1970), Fassbinders Spielfilm Nummer 8, wird das Team Fassbinder-Ballhaus alle cineastischen Möglichkeiten eines klassischen, modernen Westerns ausprobieren. Sie nutzten dabei die Möglichkeiten des Cinemascope-Leinwandformats und durch gemeinsame Erfahrungen bei WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1970) und DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (1972) gelangen sie bei WELT AM DRAHT zu einem stilistischen Höhepunkt. Nun wird die einzigartige, gemeinsam erarbeitete Handschrift eines – später als „Fassbinderstil“ weltweit gerühmten – komplexen Bild- und Einstellungsablaufes deutlich. Die vom Roman inspirierten, virtuellen Raumkonzepte wirken einerseits real und andererseits futuristisch, sind aber doch immer als reale Umgebungen mit Drehorten in Köln und Paris erkennbar. Durch die Nutzung von Spiegeln, Kameradurchsichten und -perspektiven wird der Eindruck einer Welt, die sich ihrer eigenen Realität zu vergewissern sucht und zugleich daran zweifelt, optisch in Szene gesetzt.
 
Anlässlich des 75. Geburtstages von Michael Ballhaus und des 65. Geburtstages von Rainer Werner Fassbinder wird die Rainer Werner Fassbinder Foundation (RWFF) 2010 eine DVD-Ausgabe des zweiteiligen Meisterwerkes einem interessierten Publikum zugänglich machen. Denn all die mit dem Film aufgeworfenen existentiellen Fragen und ihre spannende und unterhaltsame, künstlerische Umsetzung fanden bisher unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Film wurde nach seiner Erstausstrahlung 1973 nur ganz selten in der ARD ausgestrahlt und zuletzt anlässlich der großen Fassbinder-Gesamtretrospektiven in New York 1997 und Paris 2005 mittels einer von der RWFF bereits 1996 hergestellten 35mm Kopie gezeigt. Es gibt seitdem dutzende von Anfragen, die zeigen, wie sehr man an dem Film und seinem Thema besonders heute noch interessiert ist.
 
Die RWFF schätzt sich sehr glücklich, dass Michael Ballhaus die künstlerische Leitung des Projekts übernommen hat und mit seinem Wissen der originalen Lichtbestimmung das Projekt unterstützt.
 
Hauptaufgabe der Restaurierung ist es, ein digitales Master – direkt vom 16mm Original-Umkehrpositiv – herzustellen, um neben der Verbreitung auf DVD auch die neuen digitalen Vertriebs- und Präsentationswege nutzen zu können. Dazu mussten neben der restauratorischen Aufarbeitung des visuellen und akustischen Materials auch die neuen Rechte für eine außerfernsehmäßige Auswertung erworben werden. Aufgrund unserer langjährigen Erfahrungen von Filmrestaurierungen – zuletzt mit BERLIN ALEXANDERPLATZ: Remastered (2006/2007) – nehmen wir nun anlässlich des anstehenden Doppeljubiläums 2010 eines der zentralen und umfangreichsten Werke der Zusammenarbeit von Fassbinder und Ballhaus in Angriff. Die dann vorliegenden Materialien gewährleisten nicht nur die Bestandssicherung eines der wichtigsten Werke des deutschen Science-Fiction-Films, es bedeutet auch, der Öffentlichkeit dieses nahezu unbekannte Werk wieder zugänglich zu machen.
 
Die Auswertung von WELT AM DRAHT baut auf das weltweite Netzwerk der bestehenden Lizenznehmer für das Fassbinder-Werk auf. Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt bereits DVD-Auswertungsverträge abgeschlossen, und zwar in Deutschland (Kinowelt/Arthaus), Frankreich (Carlotta Films), Benelux (Lumière) und Spanien (Avalon). Mit unserem Partner Criterion in den USA und anderen internationalen Interessenten stehen wir in Verhandlung.
 
Die Welturaufführung der restaurierten, digitalen Fassung wird in Berlin stattfinden, die nächste Station wird New York im Museum of Modern Art (MoMA) sein, das neben der maßgeblichen Förderung der Kulturstiftung des Bundes und dem Medienboard Berlin-Brandenburg das Projekt unterstützt.
 
 
Berlin, im Februar 2009
 

*' RWF, 1973 – zitiert nach Fischer, Robert (Hrsg.): Fassbinder über Fassbinder, Frankfurt am Main, 2004, S. 262
*'' RWF, 1973 – zitiert nach Fischer, Robert: ebenda, S. 263

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