WELT AM DRAHT

Einige allgemeine Überlegungen

Wir haben es mit drei Welten zu tun. Welt I, die Überwelt, ist die einzige Realwelt. Um mit ihren Planungsproblemen besser fertig zu werden, hat sie sich ein Simulationsmodell ihrer eigenen Welt gebaut – Welt II. Um verlässliche prognostische Ergebnisse zu liefern, muss das Simulationsmodell den Bedingungen von Welt I möglichst angenähert werden, ihr sogar bis auf eine einzige, allerdings entscheidende Differenz gleichen: seine Bewohner dürfen kein Bewusstsein ihrer selbst haben. Weil notwendig aber alle anderen Bedingungen analog sein müssen, schafft Welt I ebenso notwendig selbst die Vorraussetzungen dafür, dass Welt II sich von ihr emanzipiert. Die Intelligenz, die kulturellen, zivilisatorischen, technologischen Qualifikationen, mit denen Welt I Welt II hat programmieren müssen, werden von deren Bewohnern schliesslich dazu benutzt , ihrerseits ein Simulationsmodell für ihre eigenen Bedürfnisse zu schaffen. Weil sie jetzt selbst ein von ihnen abhängiges System haben, lernen sie etwas über Abhängigkeit und darüber, dass sie selbst nur auf fremde Rechnung existieren. Aus den Simulationseinheiten von Welt II werden Identitätseinheiten, mit denen Welt I nichts mehr anfangen kann.
 
So gesehen scheint es einfach um die Frage des richtigen Bewusstseins, der Einsicht in seine Lage zu gehen (`Wer seine Lage erkannt hat, wie sollte der noch zu halten sein?’) Aber Bewusstsein ist keine abstrakte Angelegenheit, die Hall den Simulationseinheiten bloss durch die Information (hört mal, Jungens, ich hab da was entdeckt!) mitteilen brauchte, und schon wären sie freie Menschen. Man muss also zeigen, wie das Bewusstsein über seine Lage sich an konkreten Dingen bildet, also: die Leute müssen unter den Bedingungen Ihrer Gesellschaft auch leiden und endlich beschliessen, die Welt jetzt einmal so einzurichten, wie sie ihnen selbst passt und nicht nach Massgabe von irgendwelchen anderen Instanzen. Das heisst auch, dass sie den Simulator, der in ihrer Welt entwickelt worden ist, jetzt auch für ihre eigenen Bedürfnisse in Anspruch nehmen, anstatt mit ihm die Kampagne für die neue Waschmittelmarke ausrechnen zu lassen.
 
Im Film sieht Welt I aus wie unsere Welt, vielleicht mit ein paar Eigentümlichkeiten, an denen man merkt, dass sie grösser dimensioniert ist als unsere. Bei Welt II sollte man überlegen, ob man sie nicht auf zweierlei Weise darstellt, gewissermassen aus einer subjektiven und einer objektiven Perspektive, d.h.: solange diese Welt "unter sich" ist, muss sie auch als völlig reale erscheinen, weil sie im Bewusstsein ihrer Bewohner ja auch real ist. Aber wenn wir auf der Ebene von Welt I sind, und Welt II über Bildschirm beobachtet wird, könnte vielleicht hier und da etwas an Welt II auf merkwürdige Weise unvollständig sein: eine Strasse, von der man auf Ebene II gesehen hat, dass sie bis zum Horizont weitergeht, hört beim Umschnitt auf Ebene I plötzlich genau dort auf, wo das Auto ohnehin abgebogen ist; oder ein Raum ist doch nicht so ganz komplett, wie die Bewohner von Welt II meinen, vielleicht fehlt eine Wand; oder etwas wird vom Steuerstand von Welt I schnell in eine Dekoration von Welt I eingestanzt und man sieht den Vorgang. Jedenfalls müsste irgendetwas in dieser Art getan werden: nicht nur um ganz äusserlich die Differenz zwischen Welt I und II zu zeigen, sondern auch, um zu zeigen, dass den Leuten in Welt II immer wieder etwas vorgemacht wird, was ihnen ebensogut wieder weggenommen werden kann, solange sie es sich noch nicht angeeignet haben.
 
Welt III verhält sich zu Welt II wie Welt II zu Welt I. Vielleicht ist technisch alles etwas unvollkommener, improvisierter, zumal wir Welt III ja eigentlich nur aus der Perspektive von Welt II sehen, und dort noch kein Eigenleben entwickelt worden ist, sie kann auch noch nach Belieben an und abgeschaltet werden. Vielleicht kann man sich das so vorstellen, dass Welt II mit seiner Welt III bisher nur recht simple Sachen anstellen kann, also einfache Reaktionstests auf Genussmittel, körperliche Belastungen o.ä. aber keine komplizierten intellektuellen Leistungen.
 
Ideologisches: Kann man sich vorstellen, dass Welt I sich seine Welt II nicht nur als Beobachtungsobjekt eingerichtet hat, sondern auch ganz konkret für sich arbeiten lässt ? Also: Welt I, einmal hochentwickelt durch seine eigenen Leistungen, ist mittlerweile parasitär geworden, weil sie sich alles von Welt II machen lässt. Deshalb ist sie auch so sehr an der Erhaltung von Welt II interessiert – wenn Welt II seine Dienste aufkündigt und sich selbständig macht, muss Welt I hilflos zugrundegehen, weil sie selbst längst verlernt hat, sich selbst zu reproduzieren (oder sich selbst etwa ein neues Simulationsmodell zu bauen). Also Herr-Knecht-Parabel: im gleichen Mass, wie der Herr seine Bedürfnisse verfeinert, es aber seinem Knecht überlässt, für deren Befriedigung zu sorgen, verfeinert sich auch der Knecht, während der Herr immer dümmer wird und ohne den Knecht nicht mehr leben kann, der Knecht aber wohl ohne ihn. Historisch wäre das der Feudalismus, der die Bourgeoisie hervorbringt, von der er dann abgeschafft wird, die aber ihrerseits notwendig auch ihren eigenen Gegensatz erzeugt. Im Roman ist das theoretisch angelegt, in seinen praktischen Konsequenzen aber völlig ausgeklammert, die normalen Bereiche produktiver Arbeit zum Beispiel fehlen ganz auffällig. Weil die Vorstellung natürlich abwegig ist, dass etwa von hundert frisch produzierten Autos plötzlich die Hälfte verschwindet, kann man sich vielleicht so helfen: Die technologisch fortgeschrittenere Welt I lässt alles, was sie für ihre Bedürfnis braucht, in vollautomatischen Fabriken herstellen. Alle Korrekturen im Produktionsprozess und alle Innovationen, selbst dessen sinnvolle Steuerung aber erfolgt nach Massgabe dessen, was in Welt II von den Leuten hervorgebracht wird, die mit ihrer Arbeit noch unmittelbar produktiv und intelligent verbunden sind. Wenn man das so anlegt, könnte dieser Vorgang übrigens auch ganz konkret gezeigt werden: wie in Welt I ein Aggregat versagt, der Fehler schnell in das Aggregat von Welt II einprogrammiert wird, die Leute dort eine Lösung finden, die dann von Welt I übernommen wird.
 
Welt I muss unbedingt real und szenisch im Film vorkommen. Wenn man eine ganze Weile nur Welt II gesehen hat, muss man plötzlich genau die gleiche Welt sehen, die sich aber merkwürdigerweise über das, was auf dem Bildschirm passiert, amüsiert zeigt, Sorgen macht, irgendwie eingreift usw., ohne dass der Zuschauer genau wüsste, was das eigentlich soll. Wichtig ist jedenfalls auch, dass man merkt, dass die einen mit den anderen etwas veranstalten (sich etwa auch über den heroischen Hall entzücken), und dass das dann irgendwann nicht mehr so richtig klappt und das System hysterisch wird.
 
Hall, Lynch, Fuller (der übrigens unbedingt am Anfang des Filmes vorkommen muss und dann erst sterben darf), Jinx sowieso, kommen sowohl in Welt I wie auch als Analogeinheiten in Welt II vor. Oder?
 
Rainer Werner Fassbinder
 
(ohne Datumsangabe; bisher unveröffentlicht; aus dem Archiv der RWFF; © RWFF)

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